→ Chile-Salpeter und Edelweiß Eine Familiengeschichte

Salpeter-und-Edelweiss

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Emma Olivares
Chile-Salpeter und Edelweiß Eine Familiengeschichte
ISBN 978-3-943446-51-7
352 Seiten, Preis: € 18.-

In Chile beginnen 1900 die Schweizer Anna und Samuel mit ihrem Baby Enrique ein neues Leben. Zusammen mit Enriques britischer Patentante Victoria wohnen sie in einem Haus auf dem von Immigranten bewohnten Cerro alegre in der pulsierenden Hafenstadt Valparaíso. Mit achtzehn verlässt der abenteuerlustige Enrique seine gewohnte Umgebung und macht sich auf in ein mysteriöses Salpeterwerk in der chilenischen Atacamawüste, das auf keiner Karte verzeichnet ist: die Flor de nieve, Edelweiß. Dort setzt er sich für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen ein. Da er sein Wort gegeben hat, niemandem zu verraten, wo dieses liegt, meldet er sich jahrelang nicht bei seiner Familie. Seine Eltern und die Patentante entscheiden sich voller Sorge, nach ihm zu suchen. In der Schweiz wird Margrit 1940 in die Psychiatrie gebracht mit der Diagnose paranoide Schizophrenie. Ohne einen jungen Arzt und seine Frau wäre sie dort für immer in einem Dämmerzustand versunken. Aber die beiden sind davon überzeugt, dass Margrits Äußerungen, ihre Wut und auch die Stimmen, die sie hört, eine Bedeutung haben. Als sie das letzte Puzzle ihres Traumas entdecken, können die Geschichten von Enrique und Margrit zusammenfinden.

Autorin
Emma Olivares wurde 1968 in Winterthur, Schweiz, geboren. Ihre Mutter war Chilenin, ihr Vater Schweizer. Sie hat einen starken Bezug zu Lateinamerika. Nach einer kaufmännischen Lehre studierte sie Französische und Englische Literatur und Linguistik. Zweieinhalb Jahre arbeitete sie in der Kommunikationsabteilung einer kolumbianischen Menschenrechtsorganisation in Bogotá. Ihre Schreibleidenschaft führte sie zum Journalismus und schließlich zur Schriftstellerei. Dies ist ihr erster Roman. Zu ihren literarischen Vorbildern gehören Isabel Allende und Almudena Grandes.
Leseprobe

Die Anreise (1918)
1.
Die Fahrt von La Calera, einem Dorf in der Region Valparaísos, bis zur Hafenstadt Iquique dauerte vier Tage und vier Nächte. Während der Fahrt mit dem Longitudinal, dem Zug, der seit fünf Jahren die weite Atacamawüste durchquerte, hatte Enrique ausreichend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Der Abschied hatte ihn traurig gemacht. Aber das fantastische Gefühl, genau das zu tun, was er wollte, dominierte. Enrique fühlte sich stark und frei.
Plötzlich gesellte sich eine ältere Frau zu ihm. «Hallo Jungchen, du siehst aus, als wolltest du die Welt erobern. Wohin zieht es dich? Doch nicht etwa in eine der Salpeterminen? Du siehst nicht aus, als ob dich finanzielle Nöte zwingen, dich dort abzurackern.»
Enrique empfand die Fragen der Frau als eine Spur zu neugierig. Aber er nahm ihr ihre Wissbegier nicht übel. «Ich möchte mir selber ein Bild machen, wie es dort oben zu- und hergeht. Mein Vater hat sich immer sehr für Chiles Salpeter interessiert, das hat wohl auf mich abgefärbt.»
Die Frau nickte, so als würde sie verstehen. «Du bist ein Abenteurer. Ich wünsche dir viel Glück, Jungchen.»
Die beiden redeten noch eine Weile, dann schlief Enrique ein. Das gleichmäßige Rattern des Zuges hatte ihn in den Schlaf gewiegt. Als er aufwachte, war die Frau verschwunden. Enrique wunderte sich darüber. Soviel er wusste, dauerte es eine ganze Weile, bis der Zug das erste Mal hielt.
Er erkundige sich bei einem Passagier, der ihm bis jetzt nicht aufgefallen war, nach der Frau.
«Welche alte Frau? Hier sind nur gestandene Männer, so wie du und ich. Schau dich doch um, Junge. In unserem Abteil sind vor allem Bauern aus dem Süden. Einige kommen sogar von der Insel Chiloé. Hier sitzt und saß keine einzige Frau, seitdem du eingestiegen bist.»
Enrique wusste dem nichts zu entgegnen. Die alte Frau war so real gewesen. Und doch war sie ihm anscheinend nur im Traum erschienen. Ausgerechnet ihm, der sich in der Regel nie an seine Träume erinnerte. Enrique sah sich im Wagen um. Alles Männer, die in irgendeiner Salpetermine, weit draußen in der Pampa arbeiten würden.
«Wohin gehst du, Junge»?
Mittlerweile hatte sich eine Männergruppe um Enrique und den Mann, den er angesprochen hatte, gebildet. Enrique war mit seinen achtzehn Jahren einer der Jüngsten und erweckte in einigen der Anwesenden Vaterinstinkte. Er fühlte sich in die Mangel genommen.
«In das Salpeterwerk La Palma.» Enrique wusste, dass sich die Palma ungefähr fünfundvierzig Kilometer von Iquique befand und sie seit 1889 zu den größten Salpeterwerken des Landes gehörte. La Palma war kein Dorf mehr, sondern auf dem Weg dazu, eine Salpeter-Metropole zu werden. Niemand zweifelte Enriques Worte an.
2.
Obwohl die Landschaft eintönig war, wurde Enrique nicht müde, aus dem Fenster zu sehen und die Wüste an sich vorbeiziehen zu lassen. Während Enriques Enthusiasmus ungebrochen war, wurden die Chilenen aus dem saftig grünen Süden immer ruhiger und melancholischer. Ihnen wurde mehr und mehr bewusst, was sie zurückgelassen hatten. «Hier gibt es nichts als Sand», beklagte sich ein gut gebauter Mann.
«Keine fruchtbaren Böden wie bei uns im Süden, kein Grün, keine Berge, keine Vulkane und Seen.» Ab und zu fuhr der Zug durch Oasen, die unvermittelt auftauchten. Manchmal reihten sie sich wie eine Kette aneinander. Sie waren für alle ein Lichtblick, ein Zeichen von Leben. Nach den Oasen kam wieder eine große Einöde aus Sand und einem eigentümlichen Gestein.
Ein Mitreisender bemerkte Enriques fragenden Blick. «Das ist plutonisches Material, Junge. Wir sehen nur die Oberfläche dieses magmatischen Gesteins. Es entstand vor vielen Jahren tief in der Erdkruste.»
Plötzlich wurde die Landschaft zum Teil hügelig, Bäume und Sträucher waren trotzdem nicht zu sehen. «Was für eine sterile Angelegenheit», beklagte sich ein Südchilene.
Die Tage im Zug waren trotz des Fahrtwindes heiß und die Nächte kalt. Je länger die Fahrt dauerte, desto mehr begannen sich die Männer miteinander zu unterhalten. Mit Enrique suchten besonders viele das Gespräch.
«Du stammst also von Europäern ab, Junge.»
«Meine Eltern sind Schweizer, ja.»
«Spricht man dort Englisch?»
«Meine Eltern stammen aus der Deutschschweiz. Da wird Schweizerdeutsch geredet.»
«Bist du mit dieser Sprache aufgewachsen?»
«Ja, aber auch mit Englisch und Italienisch.»
«Du bist ja eine richtige Wundertüte, Junge.»
Für Enrique war es nie besonders gewesen, dass er von klein auf verschiedene Sprachen verstand und mit der Zeit auch redete. Mit seinen achtzehn Jahren wusste er aber, dass es in Chile ungewöhnlich war, mehrsprachig zu sein. Als auch andere Mitreisende von Enriques Sprachtalent erfuhren, wurden ihm eine Weile lang Sätze vorgegeben, die er in die jeweils gewünschte Sprache übersetzte. Die Männer klatschten begeistert, wenn Enrique ohne langes Überlegen in einer fremden Sprache redete.
Irgendwann begann der Zug regelmäßig zu halten. Es war die Blütezeit des Salpeters. Deshalb schossen noch immer sowohl Salpeterwerke als auch Bahnstationen wie Unkraut aus dem kargen Wüstenboden. Der Longitudinal leerte sich tröpfchenweise.
Als er schließlich im Werk La Palma hielt, packte Enrique seine Sachen und stieg aus. Den weiteren Weg wollte er zu Fuß zurücklegen. Einige Kilometer ostwärts befand sich sein Ziel. Die Flor de nieve lag ziemlich abgelegen von der Bahnlinie und war nur zu Fuß oder auf dem Pferd zu erreichen. Enrique beschaffte sich Wasser für den Fußmarsch und zog los. Das Salpeterwerk Flor de nieve war 1918 noch auf keiner Karte verzeichnet. Wenige Menschen wussten von seiner Existenz.
Enrique faltete immer wieder die von Peter angefertigte Wegbeschreibung auf, um sicher zu gehen, dass er sich auf dem richtigen Weg befand.
3.
Nach drei Stunden sah Enrique von weitem eine Ansammlung kleiner Häuser. Aus einem Gebäude stieg Rauch auf. Je näher er kam, desto besser konnte er den Schriftzug über dem Eingangsportal des Werkes entziffern: In großen Buchstaben stand Flor de nieve geschrieben. Direkt über dem Schriftzug war ein Edelweiß eingemeißelt.
Flor de nieve – die spanische Bezeichnung für das Edelweiß, wurde ihm schlagartig klar. Dass ich das erst jetzt kapiere. Wäre da nicht das Bild der Blume, ginge ich Idiot noch immer von der wortwörtlichen Übersetzung Schneeblume aus. Aber was hat die Schweizer Nationalblume in der Atacamawüste zu suchen?
Inmitten dieser Gedanken erinnerte sich Enrique daran, wie er als kleiner Junge im Jardín Suizo zusammen mit seinem Vater ein Edelweiß betrachtete und er den Erklärungen zuhörte.
«Das Edelweiß blüht in den Schweizer Alpen. Viele meinen, bei den schmalen weißen filzigen Blättern handle es sich um die Blüte. Wenn du aber genau hinschaust, erkennst du, dass sie den gelblichen Blütenstand umfassen.»
Enrique dachte mit Dankbarkeit an seinen Vater, der ihm so viel beigebracht hatte. Er lief durch das Eingangstor der Flor de nieve und suchte zielstrebig den Maschinenraum auf. Dort vermutete er Peter, den Ingenieur. Und tatsächlich, er entdeckte ihn über einen Dieselmotor gebeugt. Der Motor trieb die Generatoren an, die den Strom für das Werk erzeugten.
«Du bist also gekommen.» Peter war sichtlich erfreut.
«Hast du nicht mit mir gerechnet?»
«In diesem Land sagt man vieles. Die Handlungen lassen dann aber auf sich warten.»
Enrique fühlte sich gekränkt. In seinem Elternhaus war ihm schon früh vermittelt worden, dass Worten Taten zu folgen hatten. Nie hatte er erlebt, dass sein Vater ein Versprechen nicht gehalten hätte.
«Bis jetzt habe ich mich eigentlich für einen typischen Chilenen gehalten. Obwohl ich grundsätzlich auch mache, was ich sage. Ich würde gerne meine Sachen ablegen. Wo werde ich schlafen?»
Peter führte ihn in eine dunkle, mit einem Wellblech überdachte Baracke, die Enrique mit drei anderen jungen Männern teilen würde.
«Wo übernachtest denn du?»
«Mir steht ein weitaus bequemeres Nachtlager zur Verfügung, Junge, aber ich gehöre ja auch zu den leitenden Angestellten. Die Flor de nieve unterscheidet sich äußerlich nicht von anderen Salpeterwerken. Wir wollen ja nicht auffallen. Deshalb herrscht wie in allen Salpeterwerken auch hier ein hierarchisches System. Der Direktor und die leitenden Angestellten sind in komfortablen Häusern untergebracht. Wir verfügen über Strom und fließendes Wasser. Die einfachen Arbeiter hingegen, zu denen du gehörst, wohnen in diesen Baracken.»
«Man hat mir erzählt, dass die gewöhnlichen Arbeiter in vielen Werken zusammengepfercht in einer Art Lager leben.»
«Da hast du richtig gehört. Du hättest es schlimmer treffen können. Bei uns musst du auch keine Kerzen und Streichhölzer kaufen. Die werden dir einmal pro Monat kostenlos abgegeben.»