→ Das verlorene Blau

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Konrad Singer
Das verlorene Blau
Roman

ISBN 978-3-943446-74-6
Preis: € 20,- D/A/CH
312 Seiten

Ihre unterschiedlichen Rebellionen haben Regina und Karlo nach Westberlin geführt, auf eine ummauerte, entmilitarisierte Insel. Diese bietet ihnen in den politisch heißen 70er Jahren die ersehnten Freiräume, um ihre Liebe und Sehnsüchte auszuleben.
Regina ist selbstbestimmt, leidenschaftlich und oft unergründlich. Sie will aber, im Unterschied zu Karlo, von Politik nichts wissen. Mit von der Partie zwischen Kreuzberg und Neukölln ist oft ein besonders schräger Vogel, der sprechende Papagei und Wörterdieb Dada, der Karlo seit seiner Jugendzeit begleitet und aus Afrika stammt. 
Wegen der ungeliebten Arbeit in der Buchhandlung Mauser & Söhne verbringt das Paar einen blauen Montag auf der Pfaueninsel. Im Sommer reisen Gina und Karlo bis zur Südspitze von Griechenland. 
Es wird eine aufregende Reise ins Blaue, zu Griechen, Göttern und fantastischen Vögeln. 
Nach einem Krach läuft er allein durch die Nacht. 
Ein Jahr später erzählt Dada von allerlei Besonderheiten auf den Reisen durch die Verlags- und Buchhandelswelt.

Leseprobe:

„Heiligsblechle!“ War das ein schwäbisches Schimpfwort? Oder
ein geheimer Zauberspruch? Karlo spürte, dass er noch immer
nicht verstanden hatte, was ihm vor gut einem Jahr passiert war,
als Ellen ihre Sachen gepackt und sich aus Kreuzberg abgesetzt
hatte. Zurückgeblieben waren ihm diese schimmernden Luft-
und Spiegelbilder sowie die gemeinsamen Lieder, die weiter
nachklangen. Seit der Trennung lastete die Berliner Luft
schwerer auf Karlos Brust und beengte seinen freien Atem.
Aber nach dem Kneipenabend mit Regina Palinka, die er jetzt
Gina nennen durfte, fragte er sich manchmal zaghaft:

Kann einem das Glück mehr als einmal im Leben begegnen?
Als lebendiger Trost zurückgeblieben war ihm auch die
maunzende Katze Kokkina. Nach der unvermeidlichen, aber
studentisch einfachen Gütertrennung war die dreifarbige
Glückskatze bei ihm geblieben. Das Tier war eine Erinnerung
an die lange Camping-Fahrt mit Ellen und einem Freundes-
paar, die sie quer durch Jugoslawien und bis zur albanischen
Grenze geführt hatte. Es war das Geschenk des Bauern Marco
Domovitsch im Kosovo, der sie auf seiner Wiese im Schatten
der Feigenbäume zelten ließ. Auf der langen Rückfahrt hatten
sie das junge Kätzchen in einem Schlafsack versteckt, dann
an jeder Grenze das Radio ihres VW-Busses etwas lauter ge-
dreht. Während der langen Heimfahrt ging es bei den vier
Grenzkontrollen bis Westberlin umso schneller, je stärker der
Gestank aus dem klapprigen Bus der vier langhaarigen Freaks
herausmüffelte.
Der letzte DDR-Grenzer am Kontrollpunkt „Dreilinden“
verzog nachts nur das Gesicht und hielt sich angewidert die
Nase zu, als er ihnen die Westberliner Personalausweise mit
den Transitvisa durchs Busfenster zurückgab. Ellen hatte sich
damals im Sommer in das junge Kätzchen verguckt, das sie
zwei Jahre später bei ihrem Auszug nicht in ihre neue Wohn-
gemeinschaft mitnehmen durfte.
Ende November 1976 saß Karlo wieder allein am runden,
viel zu großen Frühstückstisch. Er sah durch das erste fahle
Morgenlicht, das es von der Neuköllner Seite des Landwehr-
kanals nur schwach zu ihm ins Zimmer schaffte. Er bevorzugte
morgens dieses natürliche Dämmerlicht und verzichtete da-
rauf, die orangefarbene Hängelampe einzuschalten. Bei sei-
nem gewohnten Frühstück – Filterkaffee, Schrippe mit dem
Rüben-Sirup „Grafschafter Goldsaft“, dann ein Schusterjunge,
Roggenbrötchen mit Streichkäse von Aldi – hatte Karlo noch
etwas Zeit, sich selbst zwischen der Nacht und diesem trüben
Morgen, zwischen Heute und seiner jüngsten Vergangenheit,
neu zu sortieren.
Seit Anfang des Jahres steckte er in dieser gedämpften
Lebensphase, die ihm nach den langen, wild bewegten Stu-
dentenjahren kein bisschen gefiel. Dabei war das Staatsexa-
men noch glatt und gut gelaufen. Nur der grämliche Germanist
im Prüfungsamt hatte ihn bei der Literaturprüfung spüren
lassen, dass er die Kombination von Georg Büchner und
Heinrich Mann nicht in Ordnung fand. Ob er auch Texte von
Heinrich Böll oder Günter Grass im Unterricht durchnehmen
würde, wurde er am Ende gefragt. Als er auch bei diesen
Autoren der Gegenwart sein Wissen zeigen konnte, bekam
er nur noch ein „befriedigend“. Dabei hatte er in Politik beim
Thema Verfassungsrecht von einem Richter und Professor
am Bundesverwaltungsgericht eine glatte Eins bekommen.
Als Karlo dann die letzte mündliche Prüfung fürs Lehramt
ablegte, war er bereits ein frisch gebackener Lehrling in der
Buchhandlung Mauser & Söhne geworden. Für die allerletzte
Didaktik-Prüfung hatte ihm der Personalchef einen Tag Son-
derurlaub gewährt.
Eine halbe Stunde später ging Karlo an diesem November-
morgen eilig von der Ohlauer über die Reichenberger Straße
bis zur breiten Wiener Straße, die direkt zur U-Bahn „Görlitzer
Bahnhof “ führte. Über die Lausitz und den Spreewald bis nach
Wien waren bis 1945 die Fernbahnen vom großen Görlitzer
Bahnhof abgefahren. Im Weltkrieg kaum beschädigt, fuhren
von dort die Züge noch bis 1951 weiter. Erst 1962 wurden die
nun überflüssigen Hallen gesprengt, und das Hauptgebäude
war sogar erst 1975 abgerissen worden. An dessen Stelle hatte
Karlo dann das neu erbaute Stadtbad am Spreewaldplatz
kennengelernt. Dahinter entstand der weitläufige Görlitzer
Park, der bis an die Mauer in Richtung Friedrichshain reichte.
Der ganze Stadtteil hinter der Mauer hatte ja einmal zur
erweiterten Stadtmitte der einstigen Reichshauptstadt gehört.
Deswegen die breiten Boulevards und die einst prächtigen
Fassaden, die die Reichenberger und die Wiener Straße säum-
ten. So vielen Freunden und Genossen war Karlo hier zu etwas
anderen Tages- oder Nachtzeiten begegnet! Aber so früh am
Morgen ließ sich hier selten ein vertrautes Gesicht blicken.

Vormittags lagen die vielen Eckkneipen und alten Destillen
noch im tiefen Schlummer, um sich von den langen Nächten
zu erholen.
Obwohl die rote Sonne der chinesischen Revolution für ihn
inzwischen reichlich verblasst war, hatte sie ihm noch das
Berufsverbot der kurzzeitig in Bonn regierenden Sozialde-
mokraten um Willy Brandt hinterlassen. Für diesen war er nur
einer der „verrückt gewordenen Studenten“ gewesen, wie es der
Schriftsteller und Wahlkampfhelfer Günter Grass formulierte.
Die linken Studenten erschienen den meisten Deutschen für
den Staatsdienst wesentlich gefährlicher als die unzähligen
alten Nazis. Weit entfernt von der historischen Wahrheit be-
zeichnete Bundeskanzler Brandt die Studenten links von der
SPD damals öffentlich als „die neue SA“ und machte den
„Hamburger Erlass“ der Innenminister der Länder 1973 zu
seiner persönlichen Chefsache.
Auf dieser Grundlage und fern demokratischer Grundrechte
wurden zwei Jahrzehnte lang alle Beamtenanwärter vom Ver-
fassungsschutz überprüft. Die einschneidenden Folgen und
den Fleiß der alten Nazi-Agenten im Verfassungsschutz hatte
Karlo nach seinem Examen zu spüren bekommen und erst
langsam begriffen.
„U 1 Richtung Ruhleben einsteigen! Die Türen schließen.“
Er saß bereits in der U-Bahn, die in Kreuzberg eine Hoch-
bahn auf Stelzen war, und erinnerte sich an seine guten Be-
werbungsgespräche in den Grund- und Hauptschulen der
Westberliner Bezirke, die ihn gerne einstellen wollten.
Ein paar Wochen, manchmal erst Monate später, wenn seine
Bewerbung von der Innenbehörde am Fehrbelliner Platz
zurückgekommen war, erhielt er von der Schulbehörde die
vorgedruckten Absagen. Ohne dass ihm je die Gründe dafür
mitgeteilt wurden; denn die sollten ja geheim bleiben.
Umsteigen Nollendorfplatz im Tiefgeschoss. „U4 Richtung
Innsbrucker Platz einsteigen! Die Türen schließen!“
Die bellende Kommandostimme aus dem Lautsprecher hätte
für ihn ebenso lauten können: Hau ab! Verpiss dich endlich!
Zumindest so ähnlich fühlte sich Karlo auf seinem Weg zur
Arbeit. Kurz vor neun ging Karlo heute wieder durch den
offenen Seiteneingang der Buchhandlung Mauser & Söhne. Er
machte einen kleinen Umweg durchs Tiefgeschoss, das noch
unbelebt im Halbdunkel lag, und stieg die Treppe zur Fach-
buchgalerie hoch, die er Regina vor vier Wochen gezeigt hatte.
Und da er sie weder nach ihrem Arbeitsplan noch nach ihrem
Telefon gefragt hatte, sah er sie nur, wenn er nachmittags die
Bestellzettel des Tages im Keller abzugeben hatte.
7.
Seit ein paar Wochen flüsterte ihm unterwegs manchmal eine
vertraute, etwas schräge Stimme ins Ohr: „Anna Blume hat ein
Vogel. Anna Blume ist rot. Welche Farbe hat der Vogel?“
Worte von Kurt Schwitters. Außerhalb des Schulunterrichts
hatte Karlo schon damals einige Gedichte der Dadaisten aus-
wendig gelernt. Und so taufte er vor zehn Jahren auch seinen
jungen Graupapagei aus Afrika einfach „Dada“. Den hatte er
sich durch Ferienarbeiten, in der Baumschule und in einer
Drahtfabrik, selber verdient: Der Name hatte auch den Vorteil,
dass er sich nicht auf Weibchen oder Männchen festlegen
musste, die bei dieser Art äußerlich gar nicht zu unterscheiden
waren. Am Ende seiner Schulzeit wurde Dada für Karlo zum
gesprächigen und verspielten Partner seiner ersehnten Unab-
hängigkeit. Was ihm nicht gefiel, verweigerte der Vogel kräch-
zend und manchmal durchaus bissig. Eigentlich war Dada
ein verborgener Anarchist und Verweigerer. Darin waren sie
sich die beiden ähnlich, um nicht zu sagen seelenverwandt.
Da der Vogel irgendwann der ganzen Familie gehörte, hatte
Karlo ihn für die ersten Studienjahre bei seinen Eltern zurück-
gelassen.
Erst als dann in der geräumigen Wohnung am Ende des Stu-
diums alles auf eine studentische Kleinfamilie mit Katze hin-
deutete, hatte es Karlo gewagt, Dada aus dem Rheinland nach
Kreuzberg nachzuholen.
Dort hatten Ellen und Karlo noch versucht, ihm ein paar linke
Sprüche beizubringen, die zu Schwitters „Rot liebe ich Dir“
passten: „Hoch die – hoch die! Nieder mit – nieder mit!“ Und
sogar den Anfang dieses berühmten Kampfliedes: „Völker, hört
die …“ Weiter bis zu den Signalen hatte es der kluge Vogel
nicht mehr geschafft, bevor Karlo ihn nach einem knappen
Jahr wieder zu den Eltern an den Rhein zurückbringen musste.
Doch Dadas Stimme aus dieser glücklichen Zeit in Kreuzberg
war nach der Trennung von Ellen nie mehr ganz verstummt.
Karlo schien es sogar, als wäre Dadas Stimme inzwischen
stärker und sein Wortschatz größer geworden.
Den diesjährigen Herbst bis November war Karlo wie ein
ferngesteuerter Automaten-Mensch zur Arbeit geschlichen.
Jedes Wort war ihm schwer gefallen, so dass er mit den Kol-
leg:innen und Kund:innen nur noch das Unvermeidliche ge-
sprochen hatte. Deswegen befürchtete er sogar, langsam seine
Sprache zu verlieren. Bevor Dadas luftiger Vogelgeist und seine
Stimme wieder auftauchten, hatte Karlo sich abends meist in
seiner Wohnung verkrochen, um Musik zu hören und um
sich in seine Lyrik-Bändchen zu vertiefen. Dabei entdeckte
er erst das „Buch der Lieder“ von Heinrich Heine. Danach
„Das lyrische Stenogrammheft“ von Mascha Kaleko. Bei dem
einen war es die treffsichere Ironie, die seinen Geist aufhellen
konnte. Letztere jedoch beschrieb die Sprachlosigkeit nach
einer Trennung so klar und untröstlich, als hätte sie es gerade
für Karlo persönlich verfasst:
„Kein Wort ist groß genug, es ganz zu sagen …“