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Das Nachtvolk der iranisch-französischen Autorin Aïda Asgharzadeh wurde in den Jahren 2012 und 2013 mit großem Erfolg auf dem Theaterfestival in Avignon aufgeführt, dem bedeutendsten Festival Frankreichs.
Drei junge Frauen, die nach Auschwitz deportiert werden:
Sie werden ihrer Identität beraubt, wie Tiere behandelt. Indem sie sich gegenseitig bekämpfen und bespitzeln, begreifen sie, dass sie dieser Logik dienen. So beginnen sie, sich gegenseitig bei dem Versuch zu unterstützen, trotz des Wahnsinns zu leben. In der Waffenfabrik beteiligen sie sich an Sabotageaktionen und sammeln Waffen für den Aufstand.
Die drei Frauen stehen für die Deportierten der Vernichtungslager ebenso wie für die politischen Gefangenen in den heutigen Foltergefängnissen von Guantanamo bis Teheran.Das Theaterstück wurde für den Geschichtsunterricht an französischen Schulen geschrieben. Von jungen Frauen gespielt, vermittelt es Jugendlichen einen emotionalen Zugang.
Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Stange.
ISBN 978-3-943446-11-1
PREIS: 9.90 €
Edition Contra-Bass
Leseprobe
6. GLYZINIEN
Verteilung der täglichen Suppenration.
Februar 1944.
Jeanne
Ich beobachte dich seit einigen Tagen auf der Baustelle. Du bist viel am Schwanken…
Esther
Das ist die Müdigkeit. Wird schon vorbeigehn.
Jeanne
Bist du sicher? Wieviel Monate noch?
Esther
…
Jeanne
Ach Esther, du bist so mager, da kannst du sicher sein, man wird es nicht sehen, wenn man nicht darauf achtet. Und ich kann dir versichern, dass du für sie keine so große Bedeutung hast. Ich hab dir schon gesagt, lass dir was einfallen für die Krankenschwester vom Revier. Die Metzger. Du besorgst ihr Zigaretten oder Kleidungsstücke, und in einer Woche hat sie schon einen Termin für dich.
Esther
Um was zu machen?
Jeanne
In der Regel ist es nicht sehr gut, krankgeschrieben zu werden. Wozu nützt du ihnen dann noch, wenn du nicht mehr normal funktionierst?
Esther
Nein, Jeanne, der Termin, was soll da geschehen?
Jeanne
Schau mal an, Esther, welches Spiel spielst du mit mir?
Esther
Kümmer dich um deine Angelegenheiten.
Jeanne
Weißt du, was sie mit den Babys machen, die hier geboren werden? Vorausgesetzt, dass sie dich nicht schon als Schwangere in die Kammer schicken? Sie schnappen sie sich und schmeissen sie…
Esther
Hör auf!
Jeanne
Pst. Ich sag dir, besorg was für Agathe. Sie wird dir helfen abzutreiben!
Esther bleibt allein zurück. Sie weiß, wenn sie auf die Krankenstation geht, dass sie sich von ihren letzten glücklichen Erinnerungen verabschiedet: von dem Tag, an dem er ihren Bauch rund gemacht hat.
Esther
An der Straßenecke vom Boulevard Poissonnière. Um siebzehn Uhr. Ich habe mich ein wenig verspätet. Nein, ich bin gar nicht zu spät. Fast noch pünktlich. Er hat noch Glyzinien gepflückt, im Stadtpark. Da bleibt ihnen die Spucke weg, den Polizisten. Er küsst mich zur Begrüßung. Nicht auf den Mund, nein. Auch nicht auf die Wange, nein. Den Hals. Ja. Auf den Hals. Ein Beben. „Schau die Sterne.“ Wie gut das neue Leder riecht, und über uns die Sterne, einige Sternschnuppen. „Schnell, Esther, wünsch dir was!“ Ja, das ist schön… „Pst, sag jetzt nichts.“ Er packt meine Hand. „Lauf! Komm schon, lauf!“ Alles dreht sich. Das Pflaster der Rue Montmartre! Die Sonnenuhr vom Karussell! Oh, die Glocken von Notre-Dame! Die Glyzinie am Ufer der Seine… „Lass einfach alles geschehn.“ Er verbindet mir die Augen. Nein! Das kristallene Klirren der Gläser, die aneinander stoßen. Sanftes, leichtes Gelächter. Sein sanftes und leichtes Lachen. Sein sanftes und leichtes Lachen. Sein sanftes und leichtes Lachen…
7. CHARLES HAÏM
Auf der Krankenstation des Lagers.
Zwei Wochen später.
Agathe
Was hast du mir mitgebracht?
Esther
Meine Stiefel. Ich hab nichts andres.
Agathe
Das wird schon gehen.
Etwas später
Agathe
Komm mit mir!
Esther
Warte! Er wird Jonathan heißen, nein Michael, nein Karl, ja Karl. Das ist diskreter als David oder Jakob.
Agathe, sie begreift das Spiel.
… Das machst du richtig.
Esther, erfindet
Seine Lehrer werden ihn in der Schule turbulent finden, aber er wird kein böses Kind sein… Seine Nachmittage wird er damit verbringen, dass er mit den Kameraden Fußball spielt. Er wird mir immer zurufen: „Ich komme! Ich komme!“ Aber ich werde ihn jedes Mal von der Straße holen müssen… Und dann wird er sich für Medizin interessieren. Er wird auf die große medizinische Fakultät in Paris gehen.
Agathe
In dem Fall wird er bestimmt auf meine Tochter treffen.
Esther
Ach, hast du eine Tochter?
Agathe
Ja, sie ist erst siebzehn Jahre alt! Sie ist brillant. Sie hat mir von deinem Karl erzählt. Sie findet ihn ganz schön unverschämt.
Esther
Das, das ist, weil sie verliebt ist!
Agathe
Überhaupt nicht!
Esther
Aber ganz bestimmt ist sie das, sie hat einen Strauß Glyzinien auf Karls Heft gelegt.
Agathe
Man kann nicht wirklich sagen, dass dein Karl meiner Tochter den Hof machen würde.
Esther
Nein, das geht von ihr aus.
Agathe
Sie ist sehr modern.
Esther
Ja. Glaub mir, die beiden werden uns bald ein hübsches Baby machen.
Agathe
Gehen wir los?
Esther folgt Agathe mit einigen Schritten Abstand.
Agathe
Behalt deine Schuhe. Du wirst sie noch brauchen.