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Julia Engel: Kopfgewicht

Seit Monaten kreisen Katharinas Gedanken nur noch ums Kalorienzählen und ihr Gewicht. Obwohl sie nicht wahrhaben will, dass sie an einer Essstörung leidet, lässt sich die ehrgeizige Richterin auf einen Klinikaufenthalt ein und tauscht die Ordnung ihres durchorganisierten Lebens gegen einen Platz im Stuhlkreis einer Therapiegruppe. Doch auch in der Klinik ist sie getrieben vom Zwang, bloß nicht die Kontrolle zu verlieren. Nicht übers Essen und nicht über ihr Leben. Dass ihr spätestens der Seitensprung mit Martin längst den Boden unter den Füßen weggezogen hat, darf hier niemand wissen. Pflichtbewusst lässt sie sich auf die Therapieangebote ein, von denen sie zunächst wenig hält. Dann aber passieren Dinge, die Katharinas Selbstbild ins Wanken geraten lassen. Mehr und mehr erkennt sie, dass sie nicht die Einzige ist, die sich hinter einer Fassade versteckt.

Aus der Innensicht einer Magersüchtigen erzählt Julia Engel schonungslos eine Geschichte über den Hunger – nach Nähe, Leichtigkeit und Lebenslust.

Roman von Julia Engel
ISBN 
978-3-943446-64-7
Softcover, 232 Seiten
Preis
 18,00 € D/A/CH
Erscheinungsdatum 
1.11.2022

Leseprobe
Drei Essen stehen täglich zur Auswahl, sieben Tage die Woche. Ein Glück, dass ich heute erst nach dem Mittagessen eingetroffen bin. Ab morgen wird es ernst. Was soll dann auf meinem Teller liegen? Schweinesteak mit Bratkartoffeln und Bohnengemüse! schreit mich mein hungriger Magen an. Das große schwarzes Loch in mir, das alles nehmen würde, solange es warm, fettig und süß ist, bettelt nach Germknödeln mit Mohnbutter.
STOPP! DANGER! KEINEN SCHRITT WEITER!
Ich weiß nie, ob ich es bin, die das denkt oder jemand anderes zu mir spricht. Ich weiß nur, dass ich zu folgen habe. Schnell mache ich mein Kreuzchen – bei gedünstetem Zanderfilet auf Gemüsebett. Halbe Portion.
Nach fünf weiteren Kreuzen lege ich den Zettel mit der Schrift nach unten auf den Tresen und schiebe ihn zögerlich zurück zu Herrn Reichelt. Sechs Mal Vitalgericht, halbe Portion.

2.1. Dr. Krüger Chefarzt. Anmeldung über das Sekretariat. Noch während ich das Sekretariat suche, öffnet sich die Zimmertür und ein großer, nicht mehr ganz junger Herr betritt den Flur.
„Frau Gärtner? Ich habe Sie schon erwartet – das Sekretariat ist heute nicht mehr besetzt.“
Er begrüßt mich mit einem festen Händedruck und bittet mich in sein Sprechzimmer – ein großer Raum, Holzboden, ein Teppich, zwei Sessel, ein Sofa. Die Wände in warmen Farben, über dem Sofa zwei Kunstdrucke. Franz Marc vielleicht, oder Macke? Ich muss an mein farbloses Büro im Gericht denken. Und an die Kreuze auf meinem Speiseplan. Sechs Mal die falsche Antwort. Hoffentlich liegt er nicht schon in meiner Patientenakte.
Entschlossen betrete ich den Raum, als ließe sich mit der Bestimmtheit meines Auftretens das Chaos in meinem Inneren wieder in geordnete Strukturen lenken. Ich lächele den Chefarzt an und nehme auf dem Sessel Platz, den er mir anbietet.
„Einiges haben wir schon am Telefon besprochen. Trotzdem wüsste ich gerne noch etwas mehr über Sie.“ Herr Krüger wirft einen Blick in den Pappordner, der auf seinem Schoss liegt. „Ach ja, aus Lübeck“, sagt er mehr zu sich selbst, „da haben Sie schon eine weite Reise hinter sich.“
„Meine Familie hat mich heute Morgen um kurz vor sechs zum Bahnhof gebracht. Zum Glück lief alles nach Plan, bei dreimal umsteigen ist Bahnfahren schon ein gewisses Abenteuer.“
Während ich rede, scannt mein Blick den Chefarzt ab. Graue Haare, weiches Gesicht, leicht übergewichtig. Große Hände. Ein Ehering. Ob er Kinder hat?
„Ihre Familie? Wen haben Sie denn da im Morgengrauen alles zurücklassen müssen?“
„Einen Mann und drei Kinder. Elf, neun und acht Jahre alt.“
„Drei Kinder! Da hat Ihr Mann jetzt gut zu tun. Sind Sie berufstätig?“
Ich weiß nicht, ob ich mich mehr darüber ärgern soll, dass er in Betracht zieht, ich könnte mich ausschließlich der Kindererziehung widmen, oder ihm beim Studium meiner Akte nicht gleich aufgefallen ist, dass er es mit einer promovierten Juristin zu tun hat.
„Ich arbeite als Richterin, Zivilrecht. Aber nicht Vollzeit. Das heißt, ich arbeite 100%, bekomme aber nur 80% bezahlt.“ Ich lache kurz und beobachte seine Reaktion.
„Das klingt nach einem herausfordernden Job, der in der Sache wahrscheinlich ohnehin immer 100% verlangt. Aber jetzt sind Sie erstmal hier.“
Er macht eine Pause. Und was wollen Sie eigentlich hier, mit Ihren Luxusproblemen ergänzt mein Kopf seinen Satz und ich bin froh, als er mit konkreten Fragen fortfährt. Der Grund meines Kommens, die Symptomatik, die Auslöser. Im Gericht stelle ich die Fragen, jetzt sitze ich auf der Zeugenbank. Abfrage der Personalia, danach übernimmt die Verteidigung.
Ich bin eine gute Zeugin: sachlich und konzentriert berichte ich, was ich über den Fall Gärtner weiß. Herr Krüger nickt ver-stehend, fragt gelegentlich etwas nach.
Während ich erzähle, scheint ein Teil meiner Aufmerksamkeit wie eine Drohne über meinem Kopf zu schweben und das Setting von außen zu beobachten, zu analysieren, wie ich mich selbst analysiere. Erst jetzt merke ich meine innere An-spannung.
Ich fühle mich wie in einer Prüfung, als ob es richtig oder falsch gäbe bei dem, was Herr Krüger von mir wissen will.
Bislang lief alles rund, die biographischen Fakten sitzen natürlich. Emotionale Entwicklung? Familiäre Auffälligkeiten? Allmählich wird es anspruchsvoller, für eine Einserprüfung reichen jetzt keine oberflächigen Antworten mehr. Ich denke, ich schlage mich ganz gut. Es ist ja nicht so, dass ich darüber noch nie nachgedacht hätte.
Es ist die letzte Frage, die mich aus der Fassung bringt. „Wie geht es Ihnen jetzt?“, fragt Herr Krüger am Ende der Stunde und schaut mich direkt an. Blackout. Schnell wende ich den Blick ab, schließe die Augen und versuche, in mich hineinzusehen, als stünde dort die richtige Antwort. Aber da ist nichts. Alles grau, ein grauer Nebel, Wattewolken, in denen nichts zu fassen ist. Um mich herum Stille. In mir ein Vakuum.
Wie geht es Ihnen jetzt? Ich habe keine Ahnung, was ich auf diese Frage ehrlich antworten kann. Trotzdem erzähle ich irgendetwas, das sehr klug und richtig klingt. Das Einzige, was ich in meinem Gefühlsvakuum noch spüren kann, ist, dass diese Phrasen eigentlich nichts mit mir zu tun haben.

Als ich fünf Minuten später in meinem Zimmer sitze und nicht mehr in Worte fassen muss, was sich nicht in Worte fassen lässt, löst sich der Nebel wieder auf. Mit einem Schlag sind sie wieder da, die Gefühle. Die Erleichterung, endlich hier sein zu dürfen, die Sorge, wahrscheinlich gar nicht behandlungsbedürftig genug zu sein für eine Klinik und die abgrundtiefe Verachtung, überhaupt in einen solchen Zustand geraten zu sein. Die Panik, völlig die Kontrolle verloren zu haben über mein Leben, und die tiefe Verzweiflung darüber, dass in mir drin irgendetwas ganz Zentrales unreparierbar kaputt gegangen ist.