→ Franziskas Reise

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Elke Vesper
ISBN 978-3-943446-45-6
Preis : 18,00 €

Die Krankenschwester Franziska trifft mit 57 Jahren einen verrückten Entschluss: Sie kauft sich einen Rolls Royce, um damit nach Monaco zu fahren und den Spuren ihres Idols Grace Kelly zu folgen.
Franziska hat eine Krebsdiagnose erhalten, von der sie niemandem erzählt. Sie will sich nicht in die Maschinerie der herkömmlichen Medizin begeben, die sie durch ihren Beruf und den Krebstod ihres Mannes kennt. Doch mit der Begegnung einer jungen Frau verläuft die Reise anders als geplant.
Amira gibt sich als Schauspielerin aus, sie ist unangepasst und will das Leben genießen. Sie führt Franziska in Spielkasinos und teure Lokale. Franziska entdeckt, dass die Krankenschwester-Mentalität dazu geführt hat, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu vergessen. Amiras beharrliche Fragen helfen Franziska, sich von ihrem toten Mann zu verabschieden, mit dem sie seit Jahren Gespräche führt, und sich auf eine neue Liebe zu einem jüngeren Mann einzulassen. Doch die Krankheit und die Angst vor dem Tod folgen ihr immer wieder.
Elke Vesper beleuchtet mit Sensibilität, Tiefenschärfe und Witz die Geschichte zweier gegensätzlicher Frauen, die sich auf den Weg machen, festgelegte Rollen abzulegen und sich selbst zu entdecken.

Leseprobe

Das schwere Fahrzeug gleitet durch die Nacht. Es riecht nach Kirschholz und Leder. In seltsamem Widerspruch dazu kreischt Mick Jaggers zornige Stimme: I can’t get no satisfaction. And I cry and I cry and I cry and I cry …
Franziskas linker Ellbogen ruht lässig auf dem Fensterbrett, ihre Hand klopft den Rhythmus auf dem silbernen Metall des Rolls Royce. Mit der rechten hält sie locker das Lenkrad. Sie summt leise mit. I can‘t get no … Franziska verliert sich im Song wie im Dunkel der Landschaft, an der sie vorbeirauscht. Ihr Kopf denkt nicht mehr. Vor dem inneren Auge sieht sie Mick Jaggers Mund. Sinnlich bis obszön sei er, hat sie irgendwo gelesen. Wie ein Geschlechtsteil mitten im Gesicht. In einem Gesicht, das nackte Leidenschaft ist. Sinnlich, obszön, leidenschaftlich, gar von nackter Leidenschaft, all das sind Worte, mit denen Fran-ziska sich selbst nicht beschreiben würde. Auf sie träfe eher das Gegenteil zu. Manches Mal schon hat sie gedacht, dass genau das der Grund für ihre Begeisterung, geradezu Schwärmerei, für die Stones, speziell für Mick Jagger ist. Er verkörpert ein-fach alles, was ihr ein Leben lang versperrt war, nein, mehr als versperrt. Wenn etwas versperrt ist, gibt es das ja noch da draußen vor den Gittern. Was in Mick Jaggers Gesicht liegt, gab es hingegen in Franziskas Leben überhaupt nicht, selbst im Denken oder in der Fantasie. Es war inexistent.
Sie singt lauter. Ihre Stimme quietscht, hoch und falsch, aber das macht nichts. Immer wenn sie die Rolling Stones hört, fühlt sie sich jung. Ihr Alter spielt keine Rolle mehr, wenn diese Musik durch ihren Körper zuckt.
Da streift der Autoscheinwerfer eine Frau am Straßenrand, die wild mit den Armen gestikuliert. Kurz fällt Franziskas Blick auf die schmale Gestalt. Dann ist es wieder dunkel, Bäume wie schwarze Schemen dort, wo eben ein Mensch war. Dem ersten Impuls folgend, drückt Franziska aufs Gaspedal. „Weg hier! Das ist gefährlich, Franziska!“ murmelt sie. Sie dreht die Musik leiser, bis es völlig still im Auto ist. Ein automatischer Reflex, der ihr im Laufe ihres Lebens in Fleisch und Blut übergegangen ist: Nicht gehört, nicht gesehen, nicht berührt werden!
Im nächsten Augenblick lässt sie das Auto langsam an den Straßenrand rollen, bremst und legt den Rückwärtsgang ein. „Du wolltest Abenteuer, meine Liebe! Dies hier sieht nach einem aus!“ knurrt sie. Auf der sandigen Spur neben der Asphaltstraße wirbeln die Reifen kleine Steine auf, als sie im Rückwärtsgang etwas zu viel Gas gibt.
Angst kriecht kalt durch Franziskas Adern, macht sie fast bewegungsunfähig. Diese Angst ist ihr vertraut. Sie malt schlimme Fratzen in die Nacht, warnt vor allem Unbekannten, das versteckt lauern, hinterrücks hervorschnellen könnte. „Du hast nichts zu verlieren“, murmelt sie zwischen zusam-mengebissenen Zähnen. „Schisshasen leben auch nicht länger!“ Da rennt die Frau neben das Auto, wedelt mit den Armen, schreit etwas. Franziska bremst und zieht die Handbremse an. Den Motor lässt sie vorsichtshalber laufen. Die Frau bückt sich und schaut durch die Beifahrerscheibe. Sie sieht aus, als hätte sie sich in Morast gewälzt, Schmutzspuren im Gesicht, die langen dunklen Haare kleben an Stirn und Wangen. Es ist eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie rüttelt an der Beifahrertür. Franziska lächelt unwillkürlich. So abenteuerlustig ist sie nun auch wieder nicht, dass sie die Türen nicht verschließt. Langsam steigt sie aus dem Wagen, legt die Hände aufs Dach und fragt: „Guten Abend, kann ich Ihnen helfen?“
Die Augen der jungen Frau, die eben noch aufgerissen waren, verengen sich. An die Stelle der Panik tritt Fassungslosigkeit. Franziska im Blick behaltend, geht sie langsam um den Fond des Autos, streift dabei kurz mit der Hand über die Emily, als wolle sie sich vergewissern, dass sie es hier wirklich mit einem Rolls Royce zu tun hat, bis sie zwei Meter vor ihr steht. Sie mustert Franziska von Kopf bis Fuß.
Die ist kurz davor, die Nerven zu verlieren. Ihre Beine, ihre Hände zittern, sogar der Kopf gerät wieder in diesen leisen Tremor, den sie so hasst. Im Stillen spricht sie beruhigend auf sich ein: Du brauchst keine Angst zu haben. Hier ist dein Auto. Die Frau wird dir nichts tun.
Aber das hilft nur wenig. Franziskas Fantasie malt blutige Bil-der in ihren Kopf. Szenen aus Fernsehkrimis. Gleich wird aus dem Gebüsch ein Mann mit einem Schlagstock stürmen und Franziska eins überziehen. Dann werfen sie sie in den dunklen Wald, vielleicht vergraben sie sie bei lebendigem Leib oder brechen ihr vorher noch kalt das Genick. Während sie sich der fremden Frau zuwendet, fasst sie sicherheitshalber nach dem Türgriff.
„Ob sie mir helfen können?“ Die Stimme klingt rau und tief.
„Sie scheinen in Schwierigkeiten …“ Franziska zwingt sich, nicht ins Auto zu springen und loszufahren. Die Frau kommt ihr verrückt vor.
„Ich hab ihn umgebracht …“ die Fremde bricht in Schluchzen aus, sie schlägt die Hände vors Gesicht. An den Händen sind Blutspuren. „Hören Sie! Ich habe ihn umgebracht!“
Franziskas Herz rast. Worauf hat sie sich eingelassen? Will diese Frau sie nur ablenken, wie im Krimi? Vielleicht lauert da nicht nur ein Mann im Dunkel des Waldes, vielleicht sind es zwei. Ein Rolls Royce ist sehr wertvoll, weckt Sehnsüchte nach Luxus und Reichtum. Ist das Mädchen bedroht oder bedrohlich? Und wen hat sie umgebracht?
„Es hat knack gemacht …“ sagt die Fremde, als spräche sie zu sich selbst. „Sein Kopf … er ist nach hinten gefallen … es hat knack gemacht …. ich hab ihn weggestoßen, er ist hingefallen … er ist tot! Er ist bestimmt tot!“ Sie macht zwei Schritte auf Franziska zu und greift nach ihrer Hand. „Ich geh ihn suchen! Kommen Sie mit!“
„Wie bitte?“ Erschrocken schüttelt Franziska die Hand ab.
„Ich bin eine Mörderin. Vielleicht lebt er noch… ich geh ihn suchen und hol ihn und … kommen Sie mit!“
Urplötzlich ist die Angst verschwunden. An ihre Stelle tritt eine Geistesgegenwärtigkeit, die Franziska ebenso vertraut ist wie die Angst. Früher im Krankenhaus, wenn eine gefährliche Situation auftrat, war ihr Kopf klar, und sie handelte ohne jedes Zögern.
Es reicht, denkt sie. Ich steige jetzt ein und fahre weiter. Egal, ob die junge Frau eine Mörderin oder eine Fallenstellerin oder eine Verrückte ist. Ich werde die Polizei alarmieren. Die kann dann für Ordnung sorgen. Das ist nicht meine Aufgabe! Mein Abenteuer ist hiermit beendet.
Da hört sie Geräusche aus dem Dunkel neben der Straße. Ein Knacken durchs Gehölz wie von einem wilden Tier, ein Keuchen, als nähere sich ein Ungeheuer. Franziska reißt die Tür auf und springt auf den Sitz. Mit zitternden Händen versucht sie vergeblich, den Wagen anzulassen. Ihr Herz pocht hart in der Kehle.
Hinter der Beifahrerscheibe erscheint ein Männergesicht, bleich, schmal, blutüberströmt. Ein leiser Schrei entfährt ihr. Der Mann trägt eine Brille, deren eines Glas zersprungen ist. Er rüttelt an der Beifahrertür, schwingt drohend einen dicken Ast. Er schreit etwas, das Franziska nicht versteht.
Endlich gelingt es ihren zitternden Händen, den Schlüssel in die richtige Richtung zu drehen. Der Motor nimmt sein be-ruhigendes summendes Geräusch auf, und Franziska drückt aufs Gaspedal. „Ganz langsam! Bloß nicht den Wagen ab-würgen!“ murmelt sie.
„Verschwinde!“ gellt es da hinter ihr, ein hohes irres Kreischen, das Franziska in den Ohren schmerzt. „Verschwinde! Du kriegst mich nicht! Du kriegst mich nicht!“ Franziska muss nicht nach hinten schauen, um zu wissen, dass die junge Frau hinter ihr sitzt. Offenbar hatte sie vergessen, die hintere Tür zu verriegeln.
„Drücken Sie den Knopf runter!“ befiehlt sie scharf. „Und nehmen sie ihre Hände von meiner Lehne!“ Sie schaut nach rechts. Der Mann ist fort.
Scheinwerfer streifen irrlichternd durch den Wald. Die junge Frau versucht, nach vorn zu klettern.
„Bleiben sie, wo sie sind!“
„Ogottogott, fahren Sie, fahren Sie doch, da ist er!“
Sie krümmt sich zwischen den Sitzen zusammen, versucht offenbar, sich zu verstecken. Franziska würgt den Motor ab.
„So, meine Süße, jetzt mal ganz ruhig!“ Liebevoll wie mit einem ängstlichen Kind spricht sie mit sich selbst. Es ist ihr egal, ob die Fremde sie hören kann. Sie braucht es in diesem Augenblick dringlich, sich selbst Mut zuzusprechen. „Du drehst jetzt den Anlasser um, schaltest, kuppelst und fährst langsam an. Du kannst das ganz wunderbar. Siehst du! Und nun ganz gemütlich weiter!“
Gehorsam folgt sie den Anweisungen ihrer eigenen Stimme. Der mütterlich liebevolle Ton löst die Angst zwar nicht auf, aber er reduziert ihre Macht. Trotzdem wirbelt in Franziskas Kopf alles durcheinander. Der letzte „Tatort“, Horrorgeschichten von Straßenräubern, die Urlauber überfallen. Bestimmt gibt es auch Räuberinnen.
Dann denkt sie an ihre Tochter Elena. Sie ist ungefähr im Alter der jungen Frau. Sie könnte vielleicht in ebenso eine Situation geraten wie diese.
Ein Auto schießt aus einem schmalen Feldweg heraus an ihnen vorbei. Die Rücklichter verschwinden in der nächsten Kurve. Franziskas Knie sind so weich, dass sie kaum Gas geben kann. „Gleich werde ich ohnmächtig!“ murmelt sie. Wer saß da in dem Auto? War das der Mann, den die junge Frau angeblich getötet hatte? In was für ein Chaos war sie hineingeraten! Ihr war übel.
„Ganz ruhig! Ganz ruhig! Du lässt den Wagen langsam weiter rollen.“ ermutigt sie sich selbst.
Sie überlegt, was sie tun wird, wenn hinter der nächsten Kurve dieses Auto quer steht und sie zum Anhalten zwingt.
Wenn ich hier rauskomme, beschließt sie, kauf ich mir ein Handy. Sie lächelt über diesen profanen Beschluss. Irgendwie gibt er ihr Halt.
Eine Kurve nach der anderen und keine Straßenräuberbande in Sicht. Die junge Frau auf dem Rücksitz gibt keinen Mucks mehr von sich.
Der Wald scheint kein Ende zu nehmen. Dunkle Schatten säumen den Straßenrand. Schließlich erreichen sie ein Dorf, anschließend noch eins und wieder Wald und dann Felder. Die Straßen bleiben dunkel. Kirchtürme zeigen kurz vor Mitternacht an. Franziska fühlt nun, da die Angst langsam schwindet, nur noch Müdigkeit. Es ist, als verwandle sich ihr Körper in dicke, schwere Watte, die Augenlider drücken nach unten, die Hände können kaum mehr das Lenkrad halten.
„Du darfst nicht weiterfahren, Franziska! Sonst landest du noch an einem Baum.“ murmelt sie beschwörend.
„Soll ich Sie ablösen?“ Die Stimme der jungen Frau klingt so munter, als wäre sie auf einer vergnügten Spazierfahrt unterwegs.
„Nein! Sie haben mir schon genug Scherereien gemacht.“