→ Straße der Gänseblümchen

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Roman
Übersetzung aus dem Französischen von Elmar Schmeda


ISBN 978-3-943446-53-1
Preis: € 15,-
176 Seiten
Format 14×22 cm
Edition Contra-Bass

Inhaltsbeschreibung:
1962. Ein zehnjähriger Junge wird aus seinem Heimatdorf in den Bergen Algeriens gerissen und muss mit Mutter und Geschwistern nach Paris. Dort wohnt sein Vater, der schon ein paar Jahre zuvor Frankreichs Aufruf gefolgt ist, beim Bau von Straßen und Wohnsiedlungen mitzumachen, weil massenhaft billige Arbeitskräfte gebraucht werden. Für ihre Unterkunft wurde jedoch nicht gesorgt. Sein Vater wohnt in einem regelrechten Slum in einem Niemandsland, wo vor kurzem noch Gänseblümchen
wuchsen. 14.000 Menschen mussten sich aus Blech, Holz und Hohlblocksteinen Notunterkünfte schaffen, um die Wohntürme von Nanterre für zehntausende neue Bewohner hochzuziehen. Bislang hat der Junge Armut und die Brutalität der Kolonisation gekannt, nicht aber dieses Elend.
Der Roman „Straße der Gänseblümchen“ geht zurück bis in Charefs algerische Kindheit, wo ein schmutziger Krieg geführt wird. Er erzählt vom Leben im Pariser Elendsviertel, von der Zerrissenheit im Exil, von seinem schweigend ertragenden Vater und von dem Gefühl, dass alles, was er war, keinen Platz mehr hat. Aber er beschreibt auch Mehdis Drang nach Worten und seinen Willen zu verstehen, seine Wut und seine anwachsende Revolte in einem Frankreich, das den Kindern seiner
Generation mitteilt: „Integrier dich oder verrecke !“.

Autor:
Mehdi Charef, 1952 in Maghnia (Algerien) geboren, kommt 1962 nach Frankreich in die Pariser Slums. Es ist das Ende von Algeriens Befreiungskrieg aus der französischen Kolonialherrschaft. Charef arbeitet ab 1970 als Schleifer in einer Fabrik, bis 1983 sein Roman „Tee im Harem des Archi Achmed“ veröffentlicht wird. Er verarbeitet darin als Erster literarisch die Situation der Zuwanderer aus Algerien. Er versteht sich als Immigrant, weder Franzose, noch Algerier.
Der Regisseur Costa-Gavras rät ihm zur Verfilmung, die Charef selbst übernimmt. Der preisgekrönte Film „Tee im Harem des Archimedes“ wird 1985 ein internationaler Erfolg, es folgen elf weitere Filme und mehrere Romane.
Jetzt hat Charef aus der Distanz des Alters sich noch einmal in das Kind versetzt. „Straße der Gänseblümchen“ ist mit dem „Prix littéraire de la Porte Dorée 2020“ für Werke über Exil und Immigration ausgezeichnet.

Leseprobe
Ich konnte es nicht fassen: ich war da, an der Adresse, wohin wir aus Maghnia in Algerien an meinen Vater schrieben.
Herr Blanchard ist so rund und rosa wie seine Frau, und seine Schultern gucken nackt aus dem Unterhemd. Als er mich sieht, ist er in Gelächter ausgebrochen und hat zu meinem Vater gesagt: „Da hast du endlich die Kinder und die Fatma kommen lassen.“ Mein Vater war verlegen, er hat geantwortet „Gut, gut, jetzt bin ich glücklich“. Na ja, er hat es in gebrochenem Französisch gesagt. Es ist das zweite Mal, dass ich meinen Vater Französisch reden gehört habe. Das erste Mal war mit dem Taxifahrer, der uns nach unserer Ankunft am Austerlitz-Bahnhof abgeholt hat. Mein Vater erwartete uns …
Nein, er erwartete uns nicht. Er war nicht da. Er war zu spät oder aber hatte es vergessen.
An ihrem schweren Koffer ziehend, einen großen Sack auf der Schulter, von Kopf bis Fuß weiß verschleiert, lief meine Mutter um den Bahnhof herum, mit ihren Kindern im Gänsemarsch hinter ihr, jedes ein Gepäckstück in der Hand. Wir wurden von einer ziemlichen Beunruhigung, einem starken Zweifel erfasst: und wenn unser Vater sich im Tag geirrt hatte? Die Franzosen wendeten sich um nach dieser Silhouette, von der man nur die Augen sah und die unter dem Haïk schon einige spitze Worte gegen ihren Mann wiederkäute. Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen, und er zeigte seine Ungeduld uns wiederzufinden, indem er unsere Ankunft vergaß …

Schließlich ist er da, verlegen, beschämt. Er erkennt seine Frau hinter dem dünnen Schleier nicht, bei ihrem Anblick zeichnet sich kein Lächeln auf seinem Gesicht ab. Er entschuldigt sich noch einmal, meine Mutter verschiebt ihre bösen Worte auf später. Wir küssen uns, umarmen uns, vier Jahre, dass wir uns nicht gesehen haben.
Ich versuche mich zu überzeugen, dass dieser Mann mein Vater ist, mit einem Schnauzbart, an den ich mich nicht erinnere, aber auch mit meinem Groll. Mein Ressentiment gegen ihn, der so lange verschwunden war, ist dabei zu ver-rinnen.

Er sitzt dort in dem Taxi, wir auf der Rückbank und er vorne neben dem Fahrer;
– Nanterre, Siedlung der Margeriten!
Der Fahrer antwortet:
– Ich fahre nach Nanterre, dann leitest du mich.

Paris, Frankreich, wir sind da. Ohne November über unseren Köpfen hätte die Hauptstadt schön sein können. Die Menschen beeilen sich, die Autos hupen, die Kinos lassen einen träumen, und es sind überall Franzosen, überall. Französische Frauen, französische Männer. Für mich, der in Algerien vor ihnen Angst hatte, der sie fürchtete, weil sie daraus ihr Land gemacht hatten … Ich gehörte zu diesen Kindern, die ihre Präsenz erdrückte, die ihr Einfluss isolierte; kolonisiert, wird man als Indigener geboren, befrei dich mal von dieser verdammten Haut!
Und ich werde immer der Indigene von jemandem bleiben, sein ganzes Leben behält der Kolonisierte den Kolonisten im Kopf …
Und nun hat mein Vater uns zu ihnen geholt, dort wo es nur sie gibt. Damit wird man sich abfinden müssen, sie sind nicht dazu gezwungen. Mit meinen kleinen Schultern, meiner ungeschickten Sprechweise, ich, der weiß, dass ich nicht kräftig bin… Ich bin nicht glücklich hier zu sein. Ich rede nicht. Das Stärkste, das Verwirrendste: ich habe die Reise vollkommen ausgeblendet. Ich habe sie zum Teufel geschickt, den Zug, das Schiff, das Meer, Marseille – weit weg das Ganze, verdrängt!

In dem Moment, als der Zug den Bahnhof von Maghnia verließ, war alles, was ich behalten wollte: die traurigen Augen von Hanna, meiner Großmutter, die auf dem Bahnsteig blieb, bis man sie nicht mehr sah. In Oran haben wir die Nacht zu acht auf dem Fußboden in einem Zimmer eines Hotels für Soldaten verbracht. Ein blaues Neonlicht blinkte draußen und störte mich, wenn ich die Augen öffnete. Ich habe weder den Hafen von Oran im Morgengrauen gesehen, noch das Schiff, an dem ich entlanggegangen sein muss, noch dessen Bootssteg, den ich betreten haben muss, ein Schiff, dass doch ein gewaltiges Gehäuse gewesen sein muss, mit all diesen Reisenden, denen ich zuschaute, wie sie über den Laderaum liefen, in dem wir versteckt waren. Meine Brüder, meine Schwester und ich hatten uns an unsere Mutter gedrückt; während diesen zwei Tagen der Überfahrt sind wir nur aufgestanden, um aufs Klo kotzen zu gehen.

Wieder zu uns gekommen sind wir im Bahnhof von Port-Vendres, wo wir einen ganzen Tag auf einen Nachtzug nach Paris gewartet haben. Wir hatten da schon allen Reiseproviant verschlungen, die von unserer Mutter und Hanna gebackenen Brote, und jemand hat uns zwei große Laibe aus der Bäckerei gegeben, die uns über den Tag und die Nacht gebracht haben.
In dem Nachtzug hat meine Mutter einen Platz in ei-nem Abteil gefunden, wir, die Kinder, haben auf dem Gang ge-schlafen.

Im Taxi höre ich also meinen Vater das Wort „Margeriten“ aussprechen, und ich finde es schön.
Wir verlassen Paris Richtung Vorstadt: Voilà Nanterre. Wir begegnen arabischen Frauen, die nicht den Haïk tragen und ihre Haare unter einem Kopftuch verstecken, mit einer weiten Jacke oder einem verwaschenen, altmodischen Mantel auf dem Rücken. Man kann ihre Waden sehen. Meine Mutter, die nach wie vor ihren Schleier trug, drehte sich nach ihnen um. Sie muss sich Fragen stellen: wird sie die Stirn haben unverschleiert rauszugehen? Undenkbar … Innerlich lache ich über sie, ich fixiere sie, ihr Blick trifft meinen. Ihre schwarzen Augen, von einer Schwindel erregenden Tiefe, sind mein Notausgang, mein Anhaltspunkt. Ich habe keine Angst mehr vor den Franzosen.

Die Margeriten, das ist eine Siedlung aus vier Häusern, von denen eines ein riesiger sechsstöckiger Wohnblock ohne Fahrstuhl ist. Über den vier Vorbauten des Gebäudes, über eine Länge von gut dreißig Metern, lese ich diese mit einem dicken Pinsel geschriebenen Willkommensgrüße:
DIE MARGERITEN SIND ZUHÄLTER.
Meine Tante, die Schwester meines Vaters, wohnt dort mit ihrem Mann und ihren Kindern in einer Dreizimmer-Wohnung.

Wir sind zwei Tage in der Wohnung meiner Tante geblieben, und dann am Sonntag, nach dem Einkauf auf dem Markt der Quatre-Chemins, zu dem ich meinen Vater begleitet habe, entscheiden wir, endlich zu uns zu gehen.

Wir folgen unseren Eltern mit unseren Koffern und unserem Gepäck. Wir durchqueren drei Siedlungen, die sich unter-scheiden durch ihre Farben, ihre Höhe und die Anzahl der Gebäude, aus denen sie bestehen. Wir hoffen, eine nach der anderen, dass unser Vater dort anhält und auf eine Wohnung zeigend zu uns sagt: „Dort oben ist unser Zuhause …“
Wir laufen weiter, unser Vater, der sich wahrscheinlich nicht sehr wohl fühlt, vorne weg. Wir durchqueren eine letzte Siedlung mit zwei Hochhäusern und zwei Häuserblöcken. Wir gehen in ihre Alleen hinein, warten, dass mein Vater endlich seinen Koffer abstellt und sich auf eine dieser Vorhallen zu- bewegt … Keiner redet. Ich, den man immer für intelligenter als die anderen hält, beginne Zweifel zu bekommen.

Es ist kein Gebäude mehr vor uns, wir gehen weiter, und in der Ferne, wie auf einem Flachland, erhebt sich plötzlich ein Gespensterdorf mit niedrigen Mauern, ganz aus Brettern dunklen Holzes. Das Erste, was uns erreicht, ist der Rauch der Schornsteine, dicht, schwarz, wird er aus rostfleckigen Rohren auf schrägen Dächern gekotzt. Je mehr wir uns diesem Dorf, diesen verborgenen Häusern, von der Seite nähern, desto ängstlicher fühle ich mich. Kinder laufen auf den Wegen, sie spielen, lachen, die Füße im Schlamm.
Wir treten in dieses Barackenchaos ein.

Mein Vater hat nicht ausgerufen: „Kinder, wir sind bei uns angekommen!“ Er dürfte nicht stolz gewesen sein.

Nun steht meine Mutter inmitten „unserer“ Baracke. Sie guckt um sich, über sich … Sie hat noch ihren Koffer in der Hand und die Handtasche aus braunem Skai, die ihr heute Morgen die Schwester meines Vaters geschenkt hat, auf der Schulter. Er hat die Taschen, die er trug, auf den erdigen Boden zwischen zwei Schlaglöcher gestellt. Er zündet eine blaue Gauloise an. Er sieht unsere Gesichter, weiß nicht, was er uns sagen soll. Meine Mutter steht immer noch da, stumm, sie dreht sich im Kreis. Sie scheint nicht zu glauben, dass so viele Jahre Exil, Trennung, Warten, Arbeit hier enden.

– Und wo schlafen die Kinder?
Papa zeigt ihr ein im hinteren Teil eingebautes Zimmer. Wir folgen meiner Mutter dahin. Es steht ein Godin-Ofen in der Mitte.
– Ich werde ihn anmachen, sagt mein Vater.
Er greift einen Metall-Eimer und geht aus der Baracke hinaus. Meine Mutter stellt endlich ihren Koffer ab und setzt sich auf eines der vier Etagenbetten, die an beiden Seiten der Wand aneinandergereiht sind. Sie hebt die Nase, schnüffelt, betastet die Matratzen. Aus dem erdigen Boden ragen steinerne Kanten.
– Passt auf eure Füße auf … Ich will euch nicht barfuß sehen.

Sie dreht sich zu dem „großen Raum“ um. Sie starrt auf den Ofen, die auf dem Gitter stehende Kaffeekanne. Dann nähert sie sich den auf einen Tisch gestellten Gasplatten, eine blaue Butanflasche darunter. Ein großes Bett ist hinter einem aus zwei Rahmen bestehenden Paravent versteckt. Eine Hose und ein verwaschenes Unterhemd hängen darüber.
Meine Mutter:
– Fé rah el maa?
Wir fangen alle an, den Wasserhahn zu suchen. Ich glaube, dass meine Mutter sich davon abhält, einen Schluchzer von sich zu geben. Mein Vater kommt mit dem Eimer voll Briketts zurück. Wir stehen aufgereiht vor ihm. Er starrt uns an, unsicher, unwohl, und flüchtet:
– Ich mach das Feuer an!
Meine Mutter:
– El maa fine? Wo ist das Wasser?
Ohne sich umzudrehen:
– Bara!
Draußen gibt es einen Wasserhahn. Meine Mutter will ihn sehen.
– Er ist weit weg! gibt mein Vater von sich.
Meine Mutter erstarrt. Mein Vater:
– Nachher gehe ich einen Eimer füllen und den Kindern zeigen, wo er ist.
Ich habe Angst, dass meine Mutter ihren Koffer wieder nehmen könnte.
– Warum hast du es uns nicht gesagt?
– Was nicht gesagt?
– Dass wir kein Haus haben.
Er ist in Verlegenheit, mein Vater.
– Wir werden nicht lange hier bleiben, sie werden die Baracken abreißen und uns eine andere Wohnung zuweisen, sie haben es im Apparat gesagt!
Mit einem Kopfnicken zeigt er uns ein großes Radio, das auf einem Brett über zwei Holzböcken steht.
– Und das Licht?
– Was?
– Wo sind die Kerzen, man kann nichts sehen!
Meine Mutter ist am Verzweifeln. Dieses Mal ist mein Vater glücklich, er zeigt eine Glühbirne, die von der Decke hängt, wie in den Basaren, mit breitem, gelben Tesafilm um-wickelt, um die Fliegen zu fangen.
– Es gibt noch eine im Schlafzimmer.
Er streckt den Arm zur Lampe, drückt auf einen Knopf.
– Und das Klo?
– Draußen … nicht weit weg.
Meine Mutter guckt uns an und sagt zu sich selber:
– Ich werde meine Schuhe ausziehen.