→ Salomon ruft

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Konrad Singer: Salomon ruft

Sechs Schüler, jeder auf seinem Schulweg in den 1960er Jahren. Die Studentenrevolte um 1968 prägt die sechs, die zu Freunden werden, für ihr ganzes Leben: Sie bleiben wach, engagieren sich, fragen nach der Wahrheit. Einer ihrer Väter hat ihre Schule dreißig Jahre früher unter den Nazis erlebt. Er erzählt den ehemaligen Schülern, wenn sie sich bei ihm treffen, was damals in ihrer Stadt Dolmund passierte.
Vierzig Jahre nach ihrem Abitur hilft ihnen ein jüdischer Rückkehrer, die Geschichte ihrer Schule aus dem Sumpf der verdrängten Erinnerungen zu heben. Benjamin Salomon hatte als 14-Jähriger in einem jüdischen Partisanenlager in Weißrussland Schutz gefunden und als Partisan gegen die Deutsche Wehrmacht gekämpft. Vieles aus der Nazi-Geschichte der kleinen Stadt und seines Gymnasiums wurde lange verschwiegen und lebte damit unterirdisch weiter. Salomon, der von der Angst gezeichnete einzige Überlebende seiner Familie, kann später in Dolmund nur als heimliches Gewissen der Stadt leben. Mit den sechs Freunden gelingt es, sein Wissen ins Licht zu bringen. Salomon ruft bis heute.

Konrad Singer wurde in der Lüneburger Heide geboren und ist am Niederrhein, an der Nordsee und im Münsterland aufgewachsen. Er studierte Geschichte, Deutsch und Slawistik in Westberlin und Hamburg, wo er heute wohnt. Drei Jahrzehnte arbeitete er als freier Verlagsvertreter für unabhängige Buchverlage. Er schreibt Lyrik und Prosa.„Salomon ruft“ ist seine erste Buchveröffentlichung.

Konrad Singer
Erzählung
168 Seiten
ISBN 978-3-943446-36-4
Preis € 16,–
Edition Contra-Bass UG Hamburg

Leseprobe
Nein, nach dem Krieg dachte ich nicht an eine Rückkehr. Auch nicht daran, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, der Ende 1937 seine Metzgerei in Dolmund schließen musste. Ich lernte in Minsk das Bäckerhandwerk und erlebte dort länger als ein Jahrzehnt den Wiederaufbau der völlig zerstörten Stadt.
Doch kehrte ich Ende der fünfziger Jahre nach Riga zurück, das zur Hauptstadt der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik geworden war. Dank des sowjetischen Bildungssystems durfte ich als Proletarier ein Lehrerstudium für Geschichte und Russisch machen. Da es aber in der Sowjetunion keine Religionsfreiheit gab und nach dem Krieg unter Stalin wieder ein scharfer Antisemitismus herrschte, wurde ich zu einem ganz weltlichen Sowjetbürger. An meine jüdische Abstammung haben mich nur noch manchmal im Traum meine Eltern erinnert. Viel später dann der Anwalt Alexander Bergmann, als es um die Holocaust-Gedenkstätten in Riga ging. In der Sowjetzeit durfte an die jüdischen Opfer gar nicht erinnert werden. Da gab es nur die Helden der Roten Armee und die Staatsreligion des Kommunismus.
Als ich mich zwischendurch wieder meinen Linsen widmete, nutzte Knud die Gelegenheit für eine Frage:
– Wie erging es ihnen denn, als Sie ein halbes Jahrhundert später nach Dolmund zurückkamen?
Darauf nahm ich erst einmal einen weiteren Schluck Bier, atmete tief durch, um dann sehr leise über den Tisch zu flüstern:
– Hätte ich am neuen Bahnhof nicht das Ortsschild gelesen, ich hätte gar nicht gewusst, wo ich angekommen war. Zum Glück ragten der Turm von St. Viktor und die vier Türme der alten Stadtmauer noch an den richtigen Stellen auf, rund um die völlig verschwundene Altstadt. Das gab mir die ersten Haltepunkte. Und dann sah ich mitten in der Stadt, gegenüber dem neuen Rathaus, ein seltsames Gebäude, so dass es mich fast umgehauen hätte. Die Zentrale der Nazi-Verbrecher, das „Braune Haus“ am Marktplatz, erhob sich dort höher und moderner als in meiner Dolmunder Kindheit. Anstatt der altdeutschen Aufschrift „NSDAP“ zeigte es jetzt, ein Stockwerk höher, das Baujahr 1936.
Mein Schrecken war groß, bis ich ein paar Tage später aufgeklärt wurde, dass ich mich zum Glück geirrt hatte. Ich war vor dem Gebäude der Markt-Apotheke erstarrt. In dem stattlichen Haus befindet sich heute ein modernes Bekleidungsgeschäft. Vom „Braunen Haus“ am Markt 13, damals mit SA-Büro und gefürchtetem Prügelraum, ist heute jede Spur verschwunden.
Zwei Löffel Linsen, ein Bissen Brot. Nach dem letzten Schluck Bier lachte ich Knud so breit an, dass er mich erstaunt fragte, worüber ich mich so freuen könnte.
– Ja, es gab Mitte der neunziger Jahre noch einen Turm als Haltepunkt für mich zum alten Dolmund: Der Turm über dem Portal des alten Gymnasiums. Gerade habe ich daran gedacht, was mir damals ein alter Dolmunder erzählte: Dass sich Ende März 1945 eine polnische Einheit in britischen Uniformen von Romburg bis nach Dolmund vorkämpfen musste. So geschah es nach der Besetzung der Stadt, dass in den letzten Märztagen die rot-weiße Fahne Polens über der braunen Oberschule von Dolmund flatterte. Das hätte ich zu gerne selber gesehen, und darüber freue ich mich, so oft ich daran denke.
Als ich Knud fragte, ob wir uns noch ein kleines Bier leisten könnten, meinte er nur: Für Sie gerne. Für mich nur noch ein alkoholfreies, damit ich sicher zurück nach Hamburg komme.
Unsere Kellnerin räumte den Tisch ab, und wir waren wieder unter uns.
Einen auch persönlich festen Halt bekam ich in Dolmund, als ich die vielen kleinen Ecken und größeren Gedenkorte entdeckte, die Jahrzehnte nach dem Kriegsende der jüdischen Geschichte der Stadt gewidmet wurden. So konnte ich nicht nur den Hinterhof wiederfinden, wo ich in meiner Kindheit unsere kleine Synagoge besucht hatte. Dass ich hier an der Straße kleine Gedenkplatten aus Messing sah, die die Namen und Lebensdaten meiner Eltern und meiner Tante nannten, hat mich endlich wieder heftig über ihr Schicksal weinen lassen. Als ich dann ihre Namen auf den Granitsteelen neben dem Stadttor lesen konnte, wusste ich, dass ich am Abend meines Lebens wieder zuhause angekommen war.
„Zachor“ – erinnere dich! steht dort in hebräischen Buchstaben eingemeißelt. Außerdem: „Gedenke Ewiger, was uns geschah.“
Ich nehme dies, nach jüdischer Tradition, ganz persönlich und denke dort auch an meinen Bruder Hans und den stark behinderten Onkel Jakob Salomon, Bruder meines Vaters, die auf dem Stein leider vergessen wurden. Onkel Jakob war schon ein Jahr vor unserer Deportation vom Haus Kannen bei Münster angeblich in eine andere Heilanstalt gebracht worden. Im Stadtarchiv Dolmund bekam ich die Gewissheit, dass er danach im Zuge der „T4-Aktion“ in einem der grauen, fensterlosen Busse nach Brandenburg verschleppt und dort ermordet worden war. Schon diese Busse müssen ausgesehen haben wie große Leichenwagen.
Bei seinem Tod war mein Onkel siebenundfünfzig Jahre alt.
Zum Glück kann ich heute einige meiner Verwandten auf dem alten jüdischen Friedhof mitten in Dolmund besuchen, so oft sie nach mir rufen. Meinen älteren Bruder Hans dagegen hatten die Nazis in den Niederlanden entdeckt und ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Dort wurde sein Tod am 23. August 1942 vermerkt, im Alter von einunddreißig Jahren.