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Marlies Millenovem: Sabbat
Der Bruch zwischen anstrengendem Berufsleben und unsicherer Muße war Herausforderung, über sich und ihr Leben, das Leben überhaupt, nachzudenken, sich an Prägendes zu erinnern und die neue Umgebung mit unverstelltem Blick wahrzunehmen.
Die Begegnungen, Bekanntschaften, Freundschaften sind alltäglich, aber auch zeittypisch.
Das Biographische spiegelt gesellschaftliche Wirklichkeit wider:
das schwierige Verhältnis zur Elterngeneration der Nachkriegszeit,
die Behinderungen beim Erwachsenwerden,
die Unzumutbarkeiten der Arbeit,
die Würdelosigkeit des Altwerdens und dann auch
die Leere des Lebens der hedonistischen Narzissten.
Und immer wieder wird das ruhige, scheinbar friedliche Leben von ergreifenden Episoden aus der Vergangenheit eingeholt.
Marlies Millenovem lebte, nach fast vierzig Jahren als Lehrerin am Ende ihres Le-bens krank, aber immer der Gegenwart zugewandt und neugierig auf die Zukunft, zehn Jahre in der Provence. Sie starb 2018.
Marlies Millenovem
Erzählung
144 Seiten
ISBN 978-3-943446-38-8
Preis: € 14,–
Edition Contra-Bass UG Hamburg
Leseprobe
Wenn sie wollte, hatte sie endlich genügend Zeit.
Schon der Tag hatte in träger Ruhe begonnen. Von draußen drang ein gedämpftes Tuten in ihr beginnendes Erwachen. Die Fahrzeuge der Bauarbeiter, die unten an der Wegbiegung das Château zu einem Restaurant umgestalten sollten, fuhren rückwärts.
Über den Kopf ihres Freundes hinweg sah sie auf die Uhr: Es war erst neun! Sie kroch tiefer in das weiche Plumeau, dehnte den Körper wohlig im Bett und dachte : „ Wie schön, noch eine Stunde liegen bleiben, vor zehn frühstücken wir nicht.“ Die zunehmende Helligkeit des Tages schien durch das Cremeweiß der Fenstervorhänge, ein sonniger Tag würde sie erwarten. Sie ließ Träumereien vom Tag und von der Umgebung, von anderer Zeit, anderem Ort in sich einziehen.
Eine warme Hand fasste nach ihrer. Satt ausgeschlafen lugte ihr Freund über die Bettdecke. Dann schlug er das Plumeau zurück und stand auf. Wie eine heilige Handlung schob er nacheinander die beiden Schals der Fenstervorhänge zur Seite.
Beglückt richtete sie sich in ihren Kissen auf und ließ ihren Blick hinaus schweifen. Er streifte liebkosend über eine Landschaft, die sich wie ein kostbarer Flickenteppich rot glühend in den Herbstfarben unter ihm hinstreckte. „Es war, als hätt‘ der Himmel …“ Mit unbeschreiblicher Lust legte er sich auf das Rotgelb der Weinfelder, das satte, silbrige Grün der Olivenhaine, das eher matte Silbergrau der entlaubten Obstbäume und tauchte in die weißen Nebelbänke vor den sanften Hügeln des Luberon. Ganz versunken in das Anschauen der Natur hörte sie nur leise das Klopfen an der Tür. Tief durchatmend schwang sie sich aus dem Bett und lief hinüber ins Bad. Die Pflege ihres Körpers war ohne Aufwand, dennoch ließ sie sich Zeit. Sorgfältig wusch sie sich die feinen Haare, die Kopfhaut leicht massierend, dann das Gesicht, und trocknete es kräftig reibend ab, das tat gut! Versöhnend trug sie danach eine kühlende Tagescreme auf. Wie jeden Morgen freute sie sich, dass die Auswahl der Kleider sie nicht einen Gedanken kostete, die Jeans hatten sich bisher als bequem, der Pullover als warm erwiesen, und was die Sauberkeit anging, so gab es wenig Anlass, zu penibel zu sein.
Als sie die Küche betrat, schüttelte sie leicht den Kopf, weil sie immer noch nicht glauben konnte, dass auch sie so leben konnte, wie sie lebte. Die große Verandatür ließ die Weite des Himmels und das buschige Grün des Gartens mit in den Raum. Dennoch musste sie über die braungelben – jetzt in den Farben der Landschaft also – Terrakottafliesen gehen und nahe an die Scheiben herantreten. Über die bemoosten Steine der Terrasse nahm das Auge seinen Weg durch die noch grünen Oleander- und Hibiskussträucher, verweilte kurz auf der blauen Wasseroberfläche des Schwimmbads, begrüßte den Feigen- und Olivenbaum in erster Reihe, dann die Aprikosen- und vielen Kirschbäume, von denen zwei jetzt – im November – sogar voller Blüten waren. „Sie werden sterben“, sagte dazu ihr Nachbar, den sie immer „der Bauer“ nannten, obwohl er von Beruf Maurer war. Er darf nicht Recht haben, dachte sie inständig.
Es war ihnen zur Gewohnheit geworden, dass ihr Freund das Frühstück machte, so dass, wenn sie morgens herunter in die Küche kam, es anregend nach Kaffee, frischem Baguette und Croissants roch. „Dir geht`s gut!“ sagte er deshalb häufig als Morgengruß und brauchte keinen Widerspruch zu erwarten.
Neben seinem Frühstücksteller lag wie üblich das Jumborätsel der Times mit noch vielen leeren Kästchen. So war es nicht verwunderlich, dass ihr Morgen eher wortkarg begann, denn auch sie war voller Gedanken.
Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie so leben konnte, wie sie lebte. Ein Jahr lang, ihr Sabbatjahr, würde sie nun in dem alten Natursteinhaus mit großem Garten in einer der schönsten Gegenden der Provence leben dürfen. Mittlerweile liebte sie das Haus mit den rissigen Wänden, den schadhaften Stufen, dem Dach, durch das es regnete, den vielen Spinnen, derer man nicht Herr wurde.
Ihr Freund und sie, übermüdet von Berufs- und Stadtleben, hatten sich in einer Herbstferienwoche dieses kleine Juwel gekauft und knüpften nun Hoffnungen und Träume daran. Denn beide waren nicht mehr jung und wollten vor ihrem offensichtlichen Altwerden und endgültigem Altsein noch einmal, wenn auch nur zeitweise, anders leben. Anders hieß für sie, mehr in Natur und Landschaft, mehr nach dem eigenen Lebensrhythmus, mit mehr Zeit zum Schauen, Denken und Nachdenken.
Vor allem das Nachdenken wollte sie mehr mit Muße angehen und nicht von vornherein durch Zielgerichtetheit blockieren, sie wollte sich dem Denken überlassen. Das fiel ihr normalerweise auch nicht schwer und Zeit ihres Lebens hatte sie fast täglich Momente oder Phasen nötig, in denen sie sich einem gedanklichen Herumvagabundieren überließ. Dies schien sie von ihrem Vater geerbt zu haben, denn auch dieser konnte stundenlang im Sessel sitzen, aus dem Fenster schauen und sich seinen Vorstellungen hingeben, auf diese Weise verging ihm die Zeit angenehm.
Hier nun hatte sie alle Zeit, sich diesem Hobby auszuliefern. Wenn sie bequem im Korbsessel in der Küche saß oder abends im Bett schon die Lektüre zur Seite gelegt hatte und mit leerem Blick herumschweifte, fragte anfangs ihr Freund, was sie denn da treibe? «Ich spintisiere!» gab sie zur Antwort, und sie merkte, dass ihrem Freund nicht wohl dabei war. Da er aber auch selbst viel zu überlegen hatte, er verfasste für einen Schulbuchverlag Unterrichtsmaterialien, überließ er sie sich selbst; längst war ihm ihr Zustand untätigen Herumsinnens vertraut.
Schon nach den ersten Mußestunden war ihr klar, dass es ihre Art des einsamen Nachdenkens nicht war, sich einen Plan zu machen, mit welcher Einsicht sie zum Beispiel gern weitergekommen wäre. Nicht dass sie in dieser Hinsicht keine Wünsche gehabt hätte, im Gegenteil, tagtäglich taten sich ihr Fragen auf, denen sie gerne nachging und die sie mit ihrem Freund und allen Menschen, mit denen sie sprach, ausführlich und ernsthaft diskutierte. Immer ging es um die Kernfrage: Wie entwickelt sich das, was ist, weiter? Wie und worauf hin verändern sich die Jugendlichen, die Wissenschaft, die Gesellschaft, die Moral, die Medien, die Wirtschaft, politische Strömungen? Die Frage ließ sich bei jeder Form von Wirklich-keit, die einem begegnete, stellen, und sie kannte nichts Spannenderes als Überlegungen dazu.
War sie aber sich selbst überlassen, blickte sie in sich selbst hinein, so gelang es ihr nie, diese allgemeinen Fragen festzuhalten, immer kamen ihr Momente ihres eigenen kleinen Lebens dazwischen, scheinbar vollkommen willkürlich, wie wunde Punkte leuchteten sie in ihrem Denken auf, und rückte sie sie näher heran, lösten sie oft eine Lawine von weiteren Vorstellungen aus, die sie manchmal sogar zu erdrücken drohten. Seltsamerweise wurden vor allem Abgründe ihres Lebens vor-stellig. Dann rettete sie sich schnell in das Glück ihrer Gegenwart und überwand den Sog der Tiefe und die Gefahr des Ab-sprungs.
Häufig geschah es so, dass ein Bild wie eine Kaffeetasse mit schon schimmeligem Restkaffee, ein Blick des Vaters, die runde Schulter der Mutter, ein Eisenbett, eine Zahnlücke sich wie ein greller Spott in ihre Schädeldecke so einbrannte, dass sie ganz schwach wurde und sich hinsetzen musste. Fügte sich der Ausschnitt zu einem Bild, zu einer Szene, zu einem Geschehen zusammen, verlor das Licht das Schmerzende, denn sie wusste sich Trost. Ihr Leben hier ohne unangenehme Zwänge von Selbstentfremdung bot Alternativen an, die man ergreifen musste.
Soweit sie ehrlich mit sich umging, ergriff sie diese. Da war vor allem ihr Bedürfnis, von Natur und Landschaft umgeben zu sein, wenn möglich von morgens bis abends. Frühstücken mit Blick auf den Obstgarten, auf die dahinter liegenden Weinfelder, auf Eichenwäldchen, auf die sanften Hügel des Luberon. Anschließend ein ausgedehnter Spaziergang; war es werktags, so hatte man im Herbst und Winter die traumhaft schöne Landschaft für sich, keine Spaziergänger. Durchquerte man ein Hameau oder ein Dörfchen, so war sie immer tief beeindruckt von der Stille, die auch hier herrschte. Ganz gleichgültig, wo sie hinsah, hinfühlte, hinhörte, alle Sinne antworteten ihr mit einem entspannten Wohlsein.
Dann legte sie beim Gehen den Kopf leicht zurück, kniff etwas die Augen zusammen, um das, was sie sah, mit ihrem Inneren zu verbinden, und überließ sich dem Schauen, das sie ganz ausfüllte und prall machte.
Ihr war bewusst, dass sie, möglichst aufrichtig in sich hinein horchend, nichts Anderes brauchte als dieses Sich-Ergehen in dieser Landschaft – jedenfalls nicht in diesem Jahr, vielleicht niemals.
Immer wenn der Gedanke aufkam, meistens von ihrem Freund geäußert, in die Städte der näheren Umgebung zu fahren, wehrte sie ab, jeder Tag, den sie nicht hier verlebte, schien ihr ein verlorener Tag.