→ Der Blick der Wenqian Chi

Wolf Reuter, Der Blick der Wenqian Chi, Erzählungen
ISBN978-3-943446-70-8
Softcover, 160 Seiten
16,00 €

Erwiderte Liebe macht glücklich; wer unglücklich liebt, kennt die Verwerfungen, die ihn an die Grenzen seiner Kontrolle über sich und die Welt schleudern. Ist die Liebe leidenschaftlich, löst sich ein Teil des Ich auf, ihre Kraft verändert die Wahrnehmung, auch die des geliebten Anderen. Verstörend ist der Moment, in dem diese geschwundene Wirklichkeit plötzlich mit ihrer unausweichlichen Wucht wieder auftaucht. Die vier Erzählungen berühren all diese Zustände der Liebe.
Ein französischer Wissenschaftler verliebt sich in eine chinesische Kollegin, die ihn, immer wieder abprallen lässt, sodass sich seine Liebe zu quälender Intensität steigert. Unerwartet taucht sie in intimer Nähe zu ihm auf.
Dora und Leon schildern im Wechsel die gleichen Situationen ihrer sommerlichen Liebe aus je persönlicher Perspektive. Das Ende des Sommers bringt Dora in die Anforderungen der Realität zurück, der sie sich nicht gewachsen fühlt.
Ein Backpack-Reisender erfährt in Bangkok, was der Krieg in Vietnam aus der „Liebe“ gemacht hat. Er lässt sich von Sutee begleiten und folgt „blind“ der thailändischen Schönheit zu ihrem Elternhaus im Gewirr der Kanäle.
Die schriftstellerisch tätige Beatrice liebt ihre sportliche Mitstudentin Corinna. Beatrice nährt ihre literarischen Ergüsse von situationär ausgelösten Visionen. Bei einem Ausflug hat Beatrice eine ihrer ins Surreale kippenden Halluzinationen.
Gemeinsam ist den Erzählungen ihr irritierendes Ende.

Leseprobe
Ich heiße Jean Girard und bin 32 Jahre alt. Ich wurde in Peking in einer der Einheitssiedlungen am zweiten Ring geboren. Meine Eltern arbeiteten beide in Peking als Angestellte an der französischen Botschaft. Sie hatten sich auf einer Betriebsfeier kennen gelernt, verbrachten Abende und später Wochenenden zusammen, besuchten Konzerte und Ausstellungen oder wanderten in den Bergen südlich der Mauer. Schließlich, das heißt zwei Jahre später, heirateten sie. Meine Mutter liebte das Theater und hatte mit der Enttäuschung leben müssen, nur auf ihrem jährlichen Urlaub in Paris auf ihre Kosten zu kommen. Ich glaube, dass sie nachts, wenn wir schon schliefen, sich selbst an Stücken versuchte. Einmal sah ich morgens Blätter beschriebenen Papiers auf dem Tisch im Wohnzimmer liegen, aus deren Graphik ich auf einen Dialog schloss.
Wie sich herausstellte, arbeitete mein Vater für den staatlichen Geheimdienst Frankreichs. Er wurde eines Tages – ich war damals bereits zwanzig und an der Tsinghua Universität in Peking eingeschrieben – enttarnt und musste das Land verlassen. So gab auch meine Mutter ihre Stellung auf und übernahm einen Posten in einer Abteilung für chinesisch-französische Handelsbeziehungen des Wirtschaftsministeriums in Paris. Einige Jahre nach diesem Wechsel starb mein Vater unter ungeklärten Umständen auf einer Dienstreise.
Dass ich meine Karriere in China beginnen sollte, war Ergebnis einer strategischen Entscheidung der Familie, aber auch mein Wunsch, da ich zu der Zeit schon in der Universität verankert war und dort viele Freundschaften geschlossen hatte. Die engen Bande, die sich mit meinen Room-Mates, den drei Mit-bewohnern meines Zimmers im Studentenwohnheim, entwickelten, wurden zum Beginn des in China so wichtigen Guanxi-Beziehungsnetzwerkes, welches die Basis meines Fortkommens sein würde. Ich war überzeugt, dass die wirtschaftliche Zukunft auch für Europäer wie mich durch die wachsende Macht Chinas bestimmt sein würde, sodass meine Karrierechancen dank der Kenntnis der Sprache, der Institutionen und eben durch das Beziehungsnetz auf meinem weiteren Lebensweg ein unschätzbarer Vorteil wäre.
Ich hatte bei dem Gaokao, der landesweiten Prüfung, die darüber entscheidet, ob man an einer guten oder schlechteren Universität aufgenommen wird, mit 658 Punkten besser als alle meine Mitschüler abgeschnitten, sodass ich an der Tsinghua studieren konnte. Mit einem Diplom in Betriebswirtschaft fand ich zunächst eine Stelle bei einem Motorenhersteller in Beijing, der ein Joint Venture mit einem französischen Autobauer ein-gegangen war. Es war eine ideale Ausgangsposition für eine binationale Karriere. Allerdings begann mich die tägliche Routine zu langweilen, die wenig mit meiner Vorstellung zu tun hatte, auf diesem Parkett spannende Transfers einzuleiten und interkulturelle Brücken zu bauen. So beschloss ich, bei meinem ehemaligen Professor zu promovieren. Ich geriet auf die akademische Schiene und war froh, nach Abschluss der Promotion trotz der gewaltigen Konkurrenz eine Stelle als Dozent an der renommierten Sun Yat-Sen Universität in Guangzhou zu finden. Wir kooperierten in Forschung und Lehre mit dem Harbin Institut of Technology. So kam es, dass ich als Angehöriger des Lehrkörpers unserer Fakultät in einem Sitzungsraum unserer Partneruniversität saß. Hier, in Harbin, der Hauptstadt der Heilongjiang Provinz, am Fluss Songhua Jiang, in einem Sitzungssaal des Institute for Applied Economics, begann es.

Es war ein winterlich kalter Frühlingstag. Die Sonne schien durch die raumhohen Fenster und warf ein von Jalousien gestreiftes Licht auf die Gesichter auf der anderen Seite des Tisches. Uns gegenüber saßen der Dekan in schwarzem Anzug und weißem Hemd mit offenem Kragen, daneben seine Stellvertreterin, Kollegen, Assistenten. Wir, das war die Abordnung der Sun Yat-Sen Universität, waren dieses Mal eingeladen, um uns über gemeinsame Themen und Formalien von Promotionen zu verständigen. Die Sitzung war fortgeschritten. Man sprach bereits über die Möglichkeiten, wie Betreuer, Prüfer und Studenten wechselseitig ausgetauscht werden könnten. Nicht, dass ich die Diskussion aus dem Auge verloren hätte – dazu war ich zu pflichtbewusst und ehrgeizig – aber mit vorrückender Zeit verschob sich meine Aufmerksamkeit. Sie galt zwei Au-gen. Sie standen ungewöhnlich schräg über Wangenknochen, deren höchste Wölbung sich knapp unterhalb dieser Augen befand. Meist fixierten sie einen Punkt unterhalb der gegenüberliegenden Tischkante, also dort, wo ich saß, schienen jedoch nach innen gerichtet. Manchmal aber hoben sie sich. Dann glitt der Blick, als wolle er sich der Gegenwart in Raum und Zeit vergewissern, aus der er sich zu lange schon verabschiedet hatte, über unsere Reihe, fixierte flüchtig einen nach dem anderen, um sich dann erneut in eine andere Welt zu vertiefen. Sie gehörten einer jungen Frau. Sie saß weit außen in der Reihe. Daraus schloss ich, dass sie eine untergeordnete Funktion innehatte. Als mich der Blick auf seiner Wanderung zum dritten Mal traf, versuchte ich unter Anspannung meines Willens, in der Hoffnung, dass sich mein Wunsch telepathisch übertrage, ihn auf mir zu halten. Vergeblich.
Dann aber, bei dem anschließenden Essen, ergab sich eine Gelegenheit. Ich wartete, bis sie sich in die Schlange vor den dampfenden Töpfen begab, aus denen Köche nach Wunsch die Schalen auf Tabletts füllten, und reihte mich hinter sie ein. Als sei eine schützende Glasscheibe zur Seite geschoben, so traf mich ihre Nähe. Ich schaute auf ihre Haare, die breit und lang über eine schwarze Jacke fielen, die wiederum einen weiten schwarzen Rock überdeckte wie in einer Kaskade hängender Tannenzweige um einen schlanken Stamm. Ich bildete mir ein den Hauch zu spüren, der durch diese Zweige ging, zog die Luft durch die Nase – aber da war nichts.
Wie von einem Blindenhund geführt ging ich hinter ihr her zu dem Tisch, an den sie sich setzte. Andere führten das Gespräch. Möglichst unauffällig musterte ich mit mir selbst auferlegten Unterbrechungen ihr Gesicht. Ihre Kinnpartie schob sich leicht vor, und ich rätselte, ob es Ausdruck eines grundsätzlichen Schmollens, oder aber einer stetig wirkenden Energie sei. Ich registrierte den Leberfleck links unten am Kinn, die Pockennarbe über der Nasenwurzel, die nachgezogenen Augenbrauen, die niedlichen Nasenlöcher und die ziselierten Lippen. Sie musste meine aufmerksamen Blicke bemerkt haben. Denn gegen Ende des Essens wandte sie sich mir uner-wartet zu.
Sie fragte, woher ich käme. Meine Antwort, Guangzhou, sei nicht das, was sie meine. Ich sähe ja wohl wie eine Langnase aus. Wo ich geboren sei. Ich erklärte ihr, dass ich in Peking geboren sei, mein anderes Aussehen aber von meinen französischen Eltern stamme. Mit freudig gehobener Stimme registrierte sie „ahh, Frenchman“ und fügte ein gebrochen gesprochenes „j`aime France“ an. Woher sie Französisch spreche? Sie habe es auf der Schule als Leistungsfach gewählt und überlege jetzt, diese Sprachkenntnis auszunutzen und auf einer französischen Universität ihre akademische Karriere weiterzutreiben. Wenn schon, dann sollte es Paris sein. Ob ich ihr eine dortige Universität empfehlen könnte. Sie sprach so schnell und zielstrebig, dass ich sie unterbrach, um mithalten zu können. Was denn überhaupt ihr Fach sei – ah, Immobilienwirtschaft, da kennte ich mich nicht so gut aus, würde aber im Internet nachschauen und ihr sagen, was ich herausbekommen hätte, falls wir uns nochmal treffen würden.