→ Idas gesammeltes Schweigen

Annette Wenner, Idas gesammeltes Schweigen
Erzählung
ISBN 978-3-943446-71-5
Hardcover
104 Seiten
16,00 €

Ida, Ende sechzig, lebt nach dem fluchtartigen Auszug ihres Lebensgefährten Rudolf allein in einer Altbauwohnung, die sie mit allem, was sie in ihrer Sammelleidenschaft aufbewahren will, vollgestellt hat. Seit Jahren geht sie nicht mehr vor die Tür, wehrt Kontaktversuche von Freundinnen ab, öffnet die Briefe nicht, die Rudolf ihr schickt.
Nach ihrem plötzlichen Tod kehrt er zurück, entdeckt seine ungeöffneten Briefe und ihre hinterlassenen Aufzeichnungen.
Darin erinnert Ida sich an ihre Kindheit auf dem Bauernhof, den frühen Tod der Mutter, das Ertrinken ihres kleinen Bruders und auch ihre ersten Jahre in Berlin mit dem Sinologie-Studenten Franz, dann dem Antiquar Rudolf aus gutbürgerlichem Hause.
Immer wieder umkreist sie die Traumata ihrer Kindheit. Dadurch findet Rudolf Zugang zu der Tragik ihres Lebens, verändert seine Sicht auf die Frau, die er geliebt und verloren hat, und stellt sich Fragen nach Verantwortung und Schuld.

Textprobe
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich halte mich für unheilbar, und daran wird sich kaum etwas ändern. Eingriffe sind zwecklos, und in meinem Alter weniger denn je erwünscht. Die Vorhänge dort, seit zwanzig Jahren sind sie nicht mehr abgenommen und gereinigt worden, das steigert die Farbtiefe: moosgrün. Rohseide, aus Rudolfs Elternhaus. Von außen betrachtet mögen sie verblichen wirken, ein Anblick, den ich mir erspare. Blickdicht sind sie jedenfalls; darauf kommt es ja letztlich an. Den kleinen Balkon vor meinem Schlafzimmer, zum Hof hin, betrete ich fast nur noch, um im Sommer einen Topf Basilikum dort abzustellen, von dem ich mir hin und wieder ein paar duftende Blätter abzupfe. Und um die Taube zu verjagen, die sich auf der Mauerbrüstung niederlässt. Wir mögen einander nicht, die Taube und ich. Es ist immer dieselbe, da bin ich mir sicher. Wie dreist sie mich anguckt und mit dem Kopf ruckelt, als würde sie sich fragen, was ich den ganzen Tag tue. Und dieses penetrante Gegurre früh morgens! Eine Tortur.
Ich gehe nicht mehr aus. Vor ein paar Jahren bin ich noch hin und wieder selbst einkaufen gegangen, zum Supermarkt um die Ecke. Jetzt lass ich den Lieferservice kommen, junge Männer, die mir die Tragetüten bis vor die Wohnungstür bringen. Manchmal lege ich was auf die Fußmatte, aber ich mache nicht auf, wenn es klingelt, ich sage nur durch die Tür: Danke, stellen Sie einfach ab. Zuletzt, als ich noch gelegentlich ausging und die Wohnung hier oben im dritten Stock von Zeit zu Zeit verließ, als du schon Jahre fort warst, ich weiß nicht mehr wie viele, tat ich es noch spätabends oder nachts, im Schutze der Dunkelheit, um wieder einmal in den Nachthimmel zu schauen. Aber es gibt ja kaum Sterne über der Stadt, anders als auf dem Lande. Zu viel Licht überall. Und Lärm, unentwegt, obwohl ich in einer ruhigen Seitenstraße wohne, wie man sagt. Überall Lärm, ein Brausen und Knattern und Aufheulen ist das! Und Geschrei. Es gibt keine Stille mehr in der Stadt. Früher ist mir das nicht so aufgefallen, da stand ich ja auch noch mitten im Leben…
Oben poltert es wieder. Ständig verrücken die da etwas, ich frage mich, was man denn immerzu verrücken muss. Weshalb können die Leute die Dinge nicht an ihrem Platz lassen, warum all die rastlose Umgestaltung, dieser ständige Umtrieb von Stuhl- und Tischbeinen. Dabei sind sie nur zu zweit, meines Wissens. Bleibt doch einfach mal sitzen! Geräusche, die ungefragt ans Ohr dringen, sind eine Belästigung, die an Folter grenzt, wie das unablässig strapazierende Gebrumm der behäbigen Fliege, die seit heute Morgen in regelmäßigen Intervallen gegen die Fensterscheibe in meiner Küche antrommelt.
Das Telefon klingelt. Herrje, wo habe ich‘s nur hingelegt. Es hört nicht auf. Der Anrufbeantworter funktioniert schon lange nicht mehr; besser so, ich rufe ungern zurück. Es muss hier irgendwo sein, ganz in der Nähe… Ein Karton mit unsortierten Zeitungsartikeln neben einem Stapel mit zu erneuter Sichtung bedürftigen Artikeln, die ich zur Auffrischung des Gedächtnisses noch einmal zu lesen beabsichtige, versperrt mir den Weg. Ich nehme die Schneise, gerate kurz ins Taumeln, fange mich ab. Zum Glück ist alles voll hier mit Dingen, Kisten und Kartons und Büchertürmen, an denen man sich notfalls abstützen kann, gewissermaßen absichtslos eingerichtet und doch geeignet, mir den Sturz, der in meinem Alter folgenschwer sein könnte, zu ersparen. Die Bürde des Sammelns, eine Leidenschaft, die ich mir nicht abgewöhnen kann. Je älter ich werde, desto verzeihlicher erscheint sie mir, diese Angewohnheit: Ja, ich bin eine Sammlerin. Es mag den Anschein haben, dass ich Dinge horte – Bücher, Zeitschriften, Zeitungsartikel, Kunstpostkarten, alte Fotos, vergilbte Briefe, zerbrochenes Geschirr und allerlei Krimskrams, den man möglicherweise noch einmal brauchen könnte. Doch das ist ein Irrtum. Ein Irrtum jener Oberflächenansicht, die dem Materiellen verhaftet bleibt und die wahre Leidenschaft des Sammelns verkennt: Es sind nicht die Dinge, an denen ich hänge, es sind die Bilder, die an mir hängen geblieben sind. Die Dinge sind nur Vehikel für die Spätheimkehrer, die ich sammle. Kaum nehme ich, zerstreut und nichtsahnend, etwas Abgelegtes in die Hand, sind sie plötzlich da…
Der hier muss runtergerutscht sein von seinem Turm, ein Karton mit Besprechungen zu Aufnahmen Alter Musik, damit ich weiß, was nicht verpasst werden sollte, was ich bestellen müsste. Was dann doch nicht geschieht. Musik, die ich liebe, ertrage ich nicht mehr. Endlich hört es auf zu klingeln. Beinahe bin ich glücklich, den Anrufer verpasst zu haben.
Es ist schon elf am Morgen. Ich habe noch nichts gegessen heute, nur Kaffee getrunken. Früher hatte ich morgens Appetit, bereitete das Frühstück für uns beide. Der steinerne Buddha mit den halb geschlossenen Lidern saß schon damals auf dem Fensterbrett, wir begrüßten ihn jeden Morgen wortlos, er nahm es regungslos entgegen, mit feinem Lächeln.
Seit Rudolf nicht mehr da ist, vergesse ich den Morgengruß an manchen Tagen.

*

Bald vierzig Jahre müssten es jetzt sein … Vor fünf Jahren bist du verschwunden, Rudolf. Als wir noch zusammenlebten, standen schon überall die Statuen, genau wie heute, nur die Kartons drum herum haben sich im Laufe der Jahre vermehrt. In jedem der Zimmer, außer deinem. Ein Zeichen meines Respekts, ich weiß, du würdest es schätzen. Die Tiergottheiten der Azteken, die Gottheiten der Alten Welt, sie wachen noch immer dort, in deinem Arbeitszimmer; seit du gegangen bist, richten sie ihre Augen auf mich, wenn ich ins Zimmer trete, um nach den Pflanzen zu sehen und hin und wieder Staub zu wischen, die Post auf deinem Schreibtisch abzulegen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich gern wüsste, was sie denken. Über mich. Über uns. Ob sie dich vermissen. Da steht die Couch aus dunkelrotem Samt. Deine Schlafstätte der letzten Jahre, bevor du gegangen bist, Rudolf.
Deine Gottheiten. Erst aus Speckstein, später aus Ton, auch aus Sandstein hast du sie nachgebildet; härterer Stein wäre dir lieber gewesen, aber die Nachbarn hatten sich über das Klopfen beschwert, weißt du noch? Wie oft hatte es uns zu den Originalen im Ethnologischen Museum in Dahlem gezogen, Abteilung Alt-Amerikanistik, um ihren Odem einzuatmen, wie du es nanntest. Ihrem Blick zu begegnen, ihrer Fremdheit. Aufgeladene Gestalten, in der Vollkommenheit der gebändigten Kraft des wilden Tiers und ruhend im Gleichmut der Gottheit. Wie oft standen wir schweigend vor den Skulpturen, den Vitrinen mit den weiblichen Gottheiten der Maya, Rudolf. Sind sie nicht Gefäße der Anima, hattest du einmal bemerkt, durchdrungen von archaischer Kraft? Geheimnisvoller und dämonischer als ihre europäischen Verwandten. Mit Ausnahme der Türhüter des Sakralen, der Wächtergestalten auf den Kapitellen romanischer und frühgotischer Kirchen. Aber die sind selten eindeutig weiblich, nicht wahr, Rudolf. Du stimmtest mir zu, mit deinem ein klein wenig schiefen Lächeln.
Sie sind alle noch da, deine Gottheiten, du hast ja nichts mitgenommen, nur den alten Koffer, offenbar.