→ Wir wollten das Leben ändern

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Anne Beaumanoir erzählt lebendig und leidenschaftlich ihre Kindheit und Jugend in der Bretagne, wo sie Akrobatik bei den Gitanos lernte und die Jugendbewegung mit-erlebte, bis der Faschismus alles veränderte. Getragen von der Liebe ihrer Eltern und der Großmutter entwickelte sie einen Gerechtigkeitssinn, der sie in den Untergrund führte. Sie half Juden bei der Flucht und riskierte ihr Leben, begegnete aber auch ihrer einzigen großen Liebe. Sie beschreibt Situationen der Angst, und wie sie daran gewachsen ist. Sie wurde Mitglied der KP und brauchte ein gutes Jahrzehnt, bis sie sich lossagen konnte. Sie ist konfrontiert mit dem gnadenlosen System dieser Partei und den absurden Verhältnissen in Moskau, wohin sie als anerkannte Wissenschaft-lerin zum Forschen eingeladen wurde. Sie berichtet vom Ungarn-Aufstand 1956 und von ihren unterstützenden Aktionen. Damit endet dieser erste Band ihrer Erinnerun-gen 1956.

Anne Beaumanoir
ISBN 978-3-943446-41-8
Seitenzahl 208
Preis 15,00 € D/A/CH
Erscheinungsdatum 1.4.2019

Leseprobe

Mein Vater bekam oft Besuch. Alle mussten ihr Fahrrad selbst zusammenbasteln und dafür einen Experten befragen, dessen Firmenschild anzeigte, dass er Rennradfahrer war und an der Tour de France teilgenommen hatte. Der größte Teil der Werkstatt war leergeräumt worden, wodurch Raum für ein Forum entstand, auf dem nicht nur über die Tour und unsere Champions Leduc und Magne geredet wurde, sondern auch über die siegreichen Kämpfe von Blum und Thorez, deren Parteigänger sich begeisterten, wenn von Bilbao die Rede war.
Der Caiffa (von Kaffee) stellte sein Lieferdreirad neben der schwarzen Kasse ab, die mit exotischen Bildern geschmückt war, die vom Leben der Kaffeepflanzer erzählten, und beteiligte sich an den improvisierten Versammlungen. Ich lauschte diesem Koloss mit offenem Mund, der versuchte, die Hausfrauen zu verführen, indem er mit seinem Megaphon verkündete: Sieh da der Caiffa. Er ist für dich da mit Planteur-Kaffee, Menier-Schokolade, Banania-Kakao und anderen Süßigkeiten. In den Diskussionen blieb er ruhig und gliederte seine Ausführungen über die Priorität des antifaschistischen Kampfes mit man muss die Lage analysieren. Unter den Zuckerstangen aus Gerstensud verbarg er die Werke seiner geistigen Vorbilder. Eines Tages, als ich versuchte, darauf einen Blick zu werfen, wedelte er mit einem Band vor meinen Augen, dessen italienischen Titel ich nicht lesen konnte. Obwohl ich noch ein Kind war, begriff ich durch diese blitzschnelle Ansicht, warum man vor Mussolini eher Angst haben sollte, wie der Caiffa es vertrat, als über ihn zu lachen. Ich war zwölf, aber er sprach zu mir wie zu einer Erwachsenen, und ich hörte ihm zu wie einem Meister, was er wahrscheinlich auch war…
Seit diesem Sommer 1936 werden alle Ereignisse, die den ruhigen Lauf oder die Stürme der Geschichte bestimmen, mich niemals unberührt lassen.
Der folgende Sommer war weniger bewegt und weniger fröhlich. Ich verbrachte ihn in Saint-Cast, das – ohne mit Dinard konkurrieren zu können – damals noch ein namhafter Badeort an der Smaragd-Küste war: Gymnastik, Bäder, Segeln, Krocket und die ersten Ausgeherlaubnisse bis zehn Uhr, die Zeit der Promenaden in festlicher Kleidung auf dem Deich.
1938 war ein Mädchen in unsere Clique dazugekommen. Sie wohnte bei Freunden, ihr Französisch war zögerlich. Obwohl sie Deutsche war und dadurch im Prinzip eine Feindin, war sie sehr hübsch. Ihre herbstfarbenen lockigen Haare, die sie mit einem Haarband zügelte, das mit dem Oberteil ihres Badeanzugs harmonierte, erregten Neid und verschlimmerten ihren Fall. Sie begriff, dass sie nur akzeptiert würde, wenn sie uns überzeugen könnte, dass ihre abwesende Familie nicht zur fünften Kolonne gehörte. Else kam aus Berlin. Sie erzählte, wie ihr Onkel von jungen Männern gelyncht wurde, die häufig in das Geschäft seiner Familie kamen, wie sie nach Frankreich gezogen und schon vor einem Jahr in Paris angekommen waren. Ihre Aussagen bestätigten den Caiffa und bewirkten, dass ich meinen Eltern zustimmte, die sich an den antifaschistischen Komitees beteiligten und manchmal sogar einen Stand auf dem Markt von Dinan hatten, wo sie Plakate und Flugblätter verteilten.
Die Ferien waren lang, und da ich Externe war, konnte ich kaum erwarten, die Bande aus dem Lyzeum wiederzutreffen. Fünfzehn Jahre, zu kurze Tage: Korrekturen vom Vormittag, Kurse, zwei Stunden akrobatische Gymnastik, Lektüre und dann die Klassenkameraden. Die neue Aufsatzform machte uns Angst: Wir wechselten von der Redaktion zur Dissertation. Es handelte sich vermutlich um den Kommentar zu einem Text von Maupassant, denn ich erinnere mich noch heute an meine ersten Schritte allein in eine Buchhandlung, um dort Bel Ami zu kaufen. Dieser Eintritt in die Welt der Bücher führte mich in die Stadtbibliothek, wo ich meine neuen Klassenkameraden traf, alle drei älter als ich, Philosophen. Obwohl sie reichhaltiger war als die vom Gymnasium, bot die städtische Bibliothek neuere Bücher erst zwei oder drei Jahre nach ihrem Erscheinen. Aus einem Wust von romantischen Schicksalen hoben sich einige Helden und Autoren hervor, die aus dem nationalen Unterrichtsprogramm in der Regel verbannt waren, wodurch der Leser ziemlich allein gelassen wurde. Wir versuchten, miteinander ohne fremde Hilfe klarzukommen, weil keiner von uns eine Ansprechperson hatte. Eine Ungerechtigkeit des Schicksals. Wir waren nicht nur ein Literaturkreis, sondern tanzten auch gern, und von den ersten schönen Tagen an liefen wir in die Wälder und gingen zum Baden. Um uns ins Meer zu stürzen, kam es vor, dass wir eine Stunde lang in die Pedale traten. Bei der Rückkehr keuchten wie mehr, denn wir mussten vor Eintritt der Dunkelheit nachhause kommen, auch wenn das zugegebenermaßen in unseren nördlichen Regionen spät der Fall ist.
Einziges Mädchen in einer Bande zu sein, in der alle anderen weiter waren, machte die Beziehungen zu meinen Mitschülern nicht leichter. Eine jedoch, die während des Schuljahres hinzukam, wurde meine Freundin. Sie verblüffte mich durch ihre Begabung, mit der sie die Hierarchien in der Klasse, die seit der Quinta unveränderbar waren, durcheinander brachte. Ihre völlig schwarze Kleidung war wegen der Trauer, sie hatte gerade ihren Vater verloren. Wir wussten, dass sie mit ihrer Mutter in einem Nachbardorf wohnte. Sie kam beim Klingeln und ging mit ihm wieder fort. Ich sah ihr Fahrrad vor dem Bahnhof. Sie saß im Wartesaal mit einem Heft auf den Knien. Sie arbeitete, ohne sich vom Lärm stören zu lassen. Beim ersten Mal zeigte ich mich nicht, aber einige Tage später ging ich auf sie zu, weil ich mir vorstellte, dass sie die Wärme suchte, und schlug ihr vor, ihre Hausaufgaben bei mir, wenige Meter entfernt zu machen. Sie machte eine gereizte Bewegung, fing sich aber wieder und lud mich mit einem komplizenhaften Lächeln ein, mich neben sie zu setzen. Wir sprachen über unsere Pauker, das bevorzugte Thema von Pennälern. Ein mindestens fünfundzwanzig- wenn nicht dreißigjähriger Mann nahm sie in den Arm und küsste sie schnell, aber auf den Mund, dessen war ich mir sicher. Am folgenden Tag traf ich sie ihrem Wunsch entsprechend am selben Ort wieder. Was sie mir erzählte, schien mir so extravagant, dass ich einige Beweise benötigte, um ihrer Geschichte Glauben zu schenken. Der Mann war ihr Geliebter oder eher ihr Gefährte, denn sie lebten unter demselben Dach zusammen mit ihrer Mutter, die auf Grund eines Zitterns als Folge der Spanischen Grippe bewegungsunfähig war. Sie waren aus Le Mans hergekommen wegen der Ernennung ihres Freundes Pierre in die Steuerstelle des Finanzamtes.
Von diesem Tag an machte Pierre vor unserer Tür Halt, um Yvette einzuladen, mit ihm zu kommen. Aus Scham davor, mit meinen Eltern über Probleme sexueller Beziehungen zu reden, hatte ich ihnen Pierre und Yvette als Geschwister vorgestellt. Jeden Abend hoffte ich, meine Scheu zu überwinden, um Yvette am nächsten Tag über das Mysterium zu befragen, das die Liebe ist. Ist es so wie bei der Heldin von Flaubert, Emma Bovary, dass ihr Blut in ihrem Fleisch zirkuliert wie ein Milchfluss? Ich brauchte noch einige Jahre bis zur Antwort auf meine Frage. 1947 nahm ich an einem Lehrgang in einem Pariser neurologischen Dienst teil. Es handelte sich tatsächlich um Yvette auf den Blättern, die ich in den Ordner Gehirn-Abszess des Dossiers Kranke, die nach einem neurochirurgischen Eingriff verstarben einordnen sollte.
Im Jahr des Münchener Abkommens 1938 erlebten wir die Ankunft von jungen Paukern im Collège, von denen zwei mit den ersten Anzeichen des Zusammenbruchs der französischen Armee wieder verschwanden. Eine der beiden, die Physik unterrichtete, verabschiedete sich von uns nach einer kleinen Ansprache, in der von den Leiden die Rede war, die uns unter dem Nazi-Stiefel erwarteten. Sie sprach von Mut und teilte uns mit, dass sie sich der Regierung in Bordeaux anschließen werde. Ihre Botschaft begriff ich sofort, wohingegen mir das Ziel ihrer Fahrt erst viel später nach dem Krieg klar wurde.
Wenn das erste Jahr der Besatzung den Alltagstrott auf dem Collège nicht groß veränderte, bezeugte doch die von Geheimnissen belastete Atmosphäre die Diskrepanzen, die sich nicht mehr auf die Anhänger des laizistischen Clubs der Dinardaise und auf die des Gemeindezirkels Le Beaumanoir beschränkten.
Seit dem Sommer 1936 hatte ich nicht mehr die Wahl, ich kannte mein Lager.
Vier Jahre, die von den Historikern als die schwarzen Jahre bezeichnet werden.

1 AdÜ: Blum und Thorez waren die Anführer der Volksfront in Frankreich. Das Baskenland war republikanisch und widersetzte sich Francos Militärputsch im Sommer 1936. Bilbao als Industriestadt war das Zentrum.

2 AdÜ: Im letzten Jahr vor dem Abitur wird statt Französisch Philosophie unterrichtet.