→ Pandemien oder Biodiversität

Sie können unsere Bücher mit einer formlosen E-Mail bestellen, bitte geben Sie Ihren Namen und die Adresse an.

Seit den 2000er Jahren haben hunderte von Wissenschaftlern Alarm geschlagen: Die menschlichen Aktivitäten haben die Bedingungen für eine „Epidemie von Pandemien“ geschaffen, weil sie die Zerstörung der Biodiversität vorantreiben.
Genau das zeigt dieses Sachbuch, indem es zahlreiche Arbeiten und beispiellose Gespräche mit mehr als 60 Forschern aus der ganzen Welt bereitstellt. Marie-Monique Robin liefert damit eine für alle zugängliche Gesamtschau, die dazu beiträgt, die kollektive Verblendung aufzulösen, die ein Handeln bisher verhindert. Ihr Befund ist nicht zu widerlegen: Die Zerstörung der Ökosysteme durch Entwaldung, Urbanisierung, industrielle Landwirtschaft und ökonomische Globalisierung bedroht die globale Gesundheit unmittelbar. Diese Zerstörung ist der Ursprung der „Zoonosen“, die von Tieren auf Menschen übertragen werden: von Ebola bis zu Covid19. Sie gehören zu den neu auftretenden („emergenten“) Krankheiten, die auf Grund von Mechanismen, die in diesem Buch ausführlich erklärt werden, immer zahlreicher ausbrechen. In ihm liest man auch, wie andere, noch schlimmere Pandemien folgen werden, wenn nichts geschieht. Und warum das einzige Gegenmittel – anders als das aussichtslose Rennen um Impfstoffe und die chronische Einsperrung der Bevölkerung – in der Bewahrung der Biodiversität besteht, die allerdings voraussetzt, dass mit der verderblichen Wirkung des ökonomischen Modells Schluss gemacht wird, welches unsere Ökosysteme dominiert.

Pandemien oder Biodiversität
Marie-Monique Robin
in Zusammenarbeit mit Serge Morand
ISBN 978-3-943446-66-1
Preis: € 20,-
304 Seiten
Übersetzung aus dem Französischen von
Gerd Stange
Edition Contra-Bass

Leseprobe

Die Lyme-Borreliose: das Modell für den Verdünnungseffekt
Manchmal als „Ökologen-Schrulle“ verspottet, wird der Verdünnungseffekt heute von zahlreichen Wissenschaftlern unterstützt, die ihn überall auf der Welt getestet und bestätigt haben. Er bestimmt, dass eine reiche lokale Biodiversität eine regulierende Wirkung auf die Ausbreitung, die Übertragung und die Virulenz von Pathogenen hat. Mit welchen Mechanismen?
Genau diese Frage lässt seit den 1990er Jahren Richard Ostfeld und Felicia Keesing nicht los. Die Beiden haben dieses Konzept in einem Artikel vorgeschlagen, der im Juni 2000 in der Zeitschrift Conservation Biology erschienen ist1. Um das Verfassen dieses Kapitels vorzubereiten, habe ich die beiden amerikanischen Forscher getrennt voneinander kontaktiert, und sie haben mir im Abstand von zwei Tagen am 20. und 22. Mai 2020 ein Gespräch zugesagt. Wie groß war dann meine Überraschung, als ich entdeckte, dass die beiden Wissenschaftler, die zahlreiche Artikel gemeinsam unterschrieben haben, auch Ehemann und -frau sind! Sie wohnen in einer Kleinstadt des Staates New York wo sie ihre Kinder aufgezogen haben. Rick Gesundheits-Ökologe am Cary Institute of Ecsystem Studies, einem Forschungszentrum in Millbrook im Tal des Hudson, das sich der ‚Wissenschaft für die Zukunft unseres Planeten‘ widmet, wie seine Internetseite verkündet. Dieses in der Umweltforschung angesehene Institut hat vier Bereiche für Gutachten: ‚Ökologie der Gesundheit‘, ‚Wasser‘, ‚Wald‘ und ‚Stadtökologie‘. Felicia steht an der Spitze der Abteilung für Biologie vom Bard College, das sich in Annandale on Hudson im Dutchess County 180 km nördlich von New York befindet. Ihr Labor untersucht, wie ökologische Gemeinschaften – Tiere, Pflanzen oder Mikroorganismen – auf die Veränderungen der Biodiversität reagieren. Das Paar leitet seit 2015 das ‚Tick Project‘, ein Forschungsprogramm zu Zecken, das vom Dutchess County geführt wird, welches eine der höchsten Inzidenzraten der Lyme-Krankheit in den USA verzeichnet. Denn Rick und Felicia sind ‚Zeckenjäger‘, um den Ausdruck von Mark Jannot aufzugreifen, der sie 2019 zusammen für die Zeitschrift Elemental interviewt hat2.
In diesem Gespräch schafft Richard ein verschwörungstheoretisches Gerücht endgültig aus der Welt, das behauptet, die Borrelia burgdorferi der Spirochäten-Bakterien (verantwortlich für die Lyme-Krankheit) sein in einem Versuchslabor des CIA als biologische Waffe geschaffen worden: eine Hypothese, die er für absolut „lächerlich“ hält, denn diese Bakterie sei schon seit ewigen Zeiten auf der Erde vorhanden.3 Ihre DNA wurde in Exemplaren von Mäusen aufgefunden, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Museen aufbewahrt wurden, aber auch im mumifizierten Leichnam des Ötzi, dieses Mannes aus der Kupfersteinzeit, der vor ungefähr 5.300 Jahren unter den italienischen Alpen im Ötztal begraben wurde. Was die Krankheit betrifft, hat sie ihren Namen von der Stadt Lyme in Connecticut, wo sie offiziell zum ersten Mal 1977 identifiziert wurde. Die Opfer waren Kinder, die unter einer bei medizinischen Fachkräften unbekannten Form von Arthritis litten. Schließlich entdeckte man, dass die jungen Opfer von Zecken der Art Gemeiner Holzbock gebissen worden waren, die von der Bakterie Borrelia infiziert waren, deren Reservoir hauptsächlich Nagetiere sind und seltener bestimmte Vogelarten. Seitdem ist die Inzidenz dieser vektoriellen Zoonose in den USA ständig weitergewachsen, wo – gemäß der Internetseite von Tick Project im Jahre 2012 – sie jedes Jahr 300.000 Menschen betrifft, was geschätzte Gesundheitskosten von 1,3 Milliarden Dollar bewirkt. Es ist genau bei dieser Arbeit über die Lyme-Krankheit, dass Richard Ostfeld und Felicia Keesing das Konzept des „Verdünnungseffekts“ entwickelt haben. Ich habe sie nacheinander interviewt, beginnend auf Empfehlung von Felicia mit Rick, denn „es sind seine Arbeiten, die alles ausgelöst haben“, wie sie mir erklärte. „Am Anfang der 1990er Jahre arbeitete ich über die Eichenwälder an der Ostküste der USA“, hat mir der Forscher gesagt. Er ist Autor von etwa 200 wissenschaftlichen Artikeln und einem Buch über die Lyme-Krankheit.4 „Ich untersuchte die Interaktionen zwischen der Produktion von Eicheln, den Waldsäugetieren – wie die Weißfußmaus (Peromyscus leucopus), die Chipmunks und die Hirsche – und den Lymantria dispar, deren Raupen die Laubbäume der nördlichen Halbkugel dezimieren.5 Ich habe festgestellt, dass die Weißfußmäuse von den Puppen des schwarzbeinigen Holzbocks6 stark infiziert waren. Ich pflege zu sagen, dass die Zecken mich ausgesucht haben und ich sie seitdem nicht mehr loslasse!“
Um die Erklärungen von Rick richtig zu verstehen, muss man wissen, dass der Entwicklungszyklus des gemeinen Holzbocks (Ixodes ricinus) wirklich besonders ist. Er verläuft in drei Stadien, die sich über zwei bis sechs Jahre erstrecken können: aus dem von einem Zeckenweibchen gelegten Ei entsteht eine Larve, die sich in eine ungefähr zwei Millimeter lange Nymphe verwandelt, die ihre Länge verdoppelt, um die erwachsene Zecke zu werden. In jedem Stadium, das Legen von dem Ei einbegriffen, braucht die Zecke eine Blutmahlzeit, um sich zu ernähren, deren Dauer zwischen drei und sieben Tagen schwankt, abhängig vom Entwicklungsstand. Am Ende des Festessens löst sie sich von ihrem Wirt, an dem sie sich vollgesaugt hat, und fällt auf den Boden, wo sie Feuchtigkeit zum Überleben braucht und mehrere Monate warten kann, bevor sie das folgende Entwicklungsstadium beginnt.
„Ich habe entdeckt, dass in den USA das Hauptreservoir der Bakterie Borrelia burgdorferi die Weißfußmäuse sind“, hat Richard Ostfeld fortgesetzt. „Also stellen Sie sich eine Zeckenlarve vor, die bewegungslos auf dem Boden eines Waldes darauf wartet, dass ein Säugetier für seine erste Blutmahlzeit vorbeikommt. Wenn sie in einer Umgebung geboren ist, in der die Weißfußmäuse bevorzugt werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von der Bakterie infiziert wird, extrem hoch. Und wenn sie sich im Frühling in die Nymphe verwandelt, wird sie für die Menschen eine Gefahr werden. Zwei Situationen ermöglichen, die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass die Zecke sich von einer Weißfußmaus ernährt: die erste ist der Rückgang der Nagetierpopulation dank der Aktivität von Räubern; die zweite ist die Anwesenheit einer zahlreichen Gemeinschaft kleiner Säugetiere, die für die Bakterie keine ‚kompetenten Wirte‘ sind. Ein ‚inkompetenter Wirt‘ ist ein Wirbeltier, das nicht fähig ist, die Vermehrung oder Übertragung von Spirochäten zu leisten. In einer ersten Studie, die wir mit Felicia in zehn Waldgebieten im Osten der USA realisiert haben, stellten wir fest, dass Igel, Chipmunks, Kaninchen, Hasen, Spitzmäuse, Maulwürfe, Eidechsen und bestimmte Vögel, die am Boden nisten, Teil dieser Kategorie sind. Jede Blutmahlzeit, die eine Zecke auf diesen Tieren nimmt, ist also für die Bakterie eine verlorene Übertragung. Daraus haben wir eine erste Folgerung geschlossen: je zahlreicher und vielfältiger die inkompetenten Wirte in einem Ökosystem sind im Vergleich zu den kompetenten Wirten, desto stärker ist die Übertragung des Pathogenes negativ betroffen und desto mehr verringert sich die Ansteckungsgefahr für Menschen. Mit anderen Worten: die Mäuse spielen die Rolle eines Verstärkers für die Ansteckungsgefahr, wohingegen die inkompetenten Wirte eine hemmende Wirkung haben, denn sie ermöglichen im Gegenteil, das Risiko zu ‚verdünnen‘.
– Welche Faktoren sind es, die eine Fülle von inkompetenten Wirten in einem Ökosystem beeinflussen?
– Das war genau das Thema der Studie, die wir 2003 veröffentlicht haben7“, hat Rick Ostfeld mir geantwortet. „Und die Antwort ist unmissverständlich: wenn man einen Wald fragmentiert, um die Landwirtschaft oder städtische Zonen zu entwickeln, reduziert man die Biodiversität der Säugetiere, die in dem intakten Wald lebten, und fördert die starke Vermehrung von Weißfußmäusen, die im Gegenteil gestörte Umweltverhältnisse schrecklich gern mögen. So vergrößert man damit auch die Population der angesteckten Zecken. Für unsere Studie haben wir die Zecken in 14 Inseln von Ahornwäldern des Dutchess County gesammelt, deren Größe zwischen 0,7 und 7,6 Hektar lag. Wir haben festgestellt, dass je grösser die Fläche der Waldparzellen war, desto schwacher war die Ausbreitung der angesteckten Nymphen wie auch die Dichte der Nymphen. Das Risiko einer Ansteckung mit der Lyme-Krankheit in den kleinsten Parzellen war fünfmal grösser als in den größten Parzellen.
– Die Weißfußmäuse sind also Generalisten?
– Ganz genau“, hat mir der Forscher bestätigt. „Eine meiner Kolleginnen im Cary Institute, Barabara Han, hat es ausgezeichnet gezeigt: sie sind Generalisten, reproduzieren sich schnell und sind fähig, weite Territorien mit sehr unterschiedlichen Umgebungen zu besetzen. Übrigens ist ihre Populationsdichte umgekehrt proportional zu der Größe der Waldflächen: je fragmentierter der Wald ist, desto stärker verbreiten sie sich. In einer 2004 veröffentlichten Studie haben wir gezeigt, dass einer der Mechanismen, die dieses Phänomen erklären, das Verschwinden der anderen Nagetier-Arten ist – wie die Chipmunks oder die Eichhörnchen – ebenso wie das der Räuber, die in begrenzten Räumen nicht leben können.
Nun ernähren sich die Wiesel, die roten oder grauen Füchse, die Coyoten oder die Greifvögel sowie der Streifenkauz zum Teil von den Weißfußmäusen und spielen damit eine regulierende Rolle ihrer Population, aber auch der Pathogene, die sie beherbergen. Deshalb sagen wir, Felicia und ich, dass die Räuber und allgemeiner die Biodiversität die menschliche Gesundheit schützen.“