→ Wir wollten das Leben ändern – Band 2

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Anne Beaumanoir
Wir wollten das Leben ändern
Band 2
Kampf für Freiheit
Algerien 1954 – 1965

Autobiographie

ISBN
978-3-943446-46-3

232 Seiten

Preis
16,00 € D/A/CH

Übersetzt aus dem Französischen von
Gerd Stange
Das Original erschien 2009 unter dem Titel “Le Feu de la Mémoire” in der
Editions Bouchène ISBN 978-2-35676-014-2.

Band 2
Mitte der 50er Jahre drohte der Algerienkrieg die Kolonialmacht Frankreich zu spalten. Anne Beaumanoir ergriff erneut Partei gegen Unterdrückung und engagierte sich für die Befreiung Algeriens, obwohl sie zwei Söhne hat und wieder schwanger ist. Mit ihrem Mann Jo, gleichfalls Mediziner, beteiligte sie sich am Geldsammeln für die algerischen Aufständischen, wurde verraten und kam ins Gefängnis. Der Verurteilung entzog sie sich und flüchtete nach Tunesien. Die Liebe zu einem Algerier tröstete sie über die Trennung von Jo, aber nicht die von ihren Kindern. Durch den Kontakt mit Frantz Fanon geriet sie in die Regierungsmannschaft von Ben Bella, dem ersten algerischen Präsidenten 1962. Sie arbeitete am Aufbau des Gesundheitswesens bis zum Putsch1965, floh wieder. In Genf leitete sie ab 1965 die Neurophysiologie einer Klinik bis zur Rente.

Leseprobe
Band 2

Endlich das Ende

Der Waffenstillstand kam nicht plötzlich wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, und dennoch – als ich am 18 März jubilierend den Pensionären der „psychiatrischen Häuser“ von Bardo und La Marsa mitteilte, dass am nächsten Tag ein großes Fest stattfände, waren die meisten sprachlos. Es stimmt, dass sie definitionsgemäß nicht ganz klar im Kopf waren… Auf manchen Gesichtern war Angst zu lesen. Diese Männer, die sich bis an die Grenzen geschleppt, in Algeriens Buschwäldern gekämpft hatten, Monate, manchmal Jahre lang in Alarmbereitschaft waren, hatten alle ihre Reserven an Hoffnung aufgebraucht. Fallengelassen stellten sich die Davongekommenen, die Ausgemusterten angstvolle Fragen über ihre Zukunft. Die Fahnen, Tänze, Youyou-Schreie derer, die besser dran waren, verbargen ebenfalls Ängste. Ich weiß es, jede Rückkehr ist ein Abenteuer, ein Gang in Richtung von unbekannt gewordenem Vertrauten. Ein mit der Wirklichkeit zu konfrontierender Traum. Ein quälendes Fragezeichen selbst für die größten Optimisten.

Das einzige einhellige Gefühl war das Glück, endlich als Algerier anerkannt zu sein. Der legitime Stolz verschob sich manchmal in Richtung von gesicherter Überlegenheit, die bei vielen bald zu einer lähmenden Paranoia führte. Sie drückte sich anfangs nur in Bemerkungen aus, die Schmunzeln erzeugten, so wie Kindersprache. Es schien töricht, dem Freund zu widersprechen, der ernsthaft zur Linie des Horizonts zeigte, um den Kontrast zwischen der algerischen grünenden Landschaft und der Trockenheit des fremden Bodens, auf dem wir uns befanden, konstatieren zu lassen.

Es wäre vielleicht nötig gewesen, ihn auszulachen, sich über die krankhafte Empfindlichkeit der algerischen Persönlichkeit hinwegzusetzen, die sicherlich verständlich ist, aber enervierend und für die Zukunft vor allem bedrohlich. Es wäre vielleicht nötig gewesen, sich über das Zeichen der Anerkennung Fragen zu stellen: „Mein Bruder“, „meine Schwester“. Eine Anlehnung an den Islam. War das nötig für den Zusammenhalt des Volkes? Mehrere befragte Freunde hatten keine Antwort oder aber ironisierten: „Willst du, dass ich dich Genosse nenne?“ Die Katholiken sind auch Brüder und Schwestern. Und wenn wir Genossen gewesen wären, wäre jeder gezwungen gewesen, seine ideologische Clique zu vertreten. Also was! Der Gebrauch dieser homogenisierenden Wörter und Riten wurde nicht als eine Bremse für die Entfaltung einer demokratischen Gesellschaft wahrgenommen. Konnte die algerische Identität ohne Bezug auf die Religion wiedergefunden werden? Tatsächlich waren die „Brüder“ oft nur entfernte Vettern mit eifersüchtigem Stolz auf ihre Zugehörigkeit zu ihrer Region, ihrem Clan und immer bereit, sich gegenseitig fertig zu machen ebenso wie sich zu helfen.

Mitte April wurden die sehr bekannten gefangenen Frauen in Tunis empfangen. Djamila Bouhired lud mich in ihre Villa in Salammbô bei Tunis ein. Ich verbrachte dort lange Momente. Mehrere dieser moudjahidate (Kämpferinnen) waren bereit für die künftigen Kämpfe. Sie stellten sich Fragen über ihr künftiges Statut als Frau, Gattin, Mutter, Arbeiterin, und wirkten nicht sehr zuversichtlich. Man diskutierte lange über ihre Abwesenheit in den Instanzen der „Revolution“. Einige wollten lautstark protestieren und sich organisieren, um dort rechtmäßig vertreten zu sein. Andere, manchmal dieselben, verwendeten den größten Teil ihrer Zeit damit, das Für und Wider einer Heirat mit einem ihrer Verehrer abzuwägen, von denen sich die meisten brieflich manifestiert hatten. Es kam vor, dass man meine Meinung erbat, weil ich als aufgeklärt galt. Man bräunte sich bei der Diskussion vom Sozialismus auf algerische Art und von universellen Frivolitäten. Man polierte sich, cremte sich, henna–ierte sich. Diese Sitzungen brachten mich zurück in die Baumettes zu den Freitags-Waschungen und machten mir Hoffnung auf die Ankunft meiner Kameradinnen aus der Haft, Nadia und Halima. Aber sie gehörten nicht zum Kreis der Heldinnen. Weder in Salammbô noch anderswo habe ich jemals Maghrebinerinnen getroffen, die nicht kokett und körperverliebt waren, vielleicht weil sie sich vor der männlichen Begehrlichkeit verstecken mussten. In der damaligen Frauengesellschaft putzten sie sich auf, um sich zu gefallen. Die Promiskuität im Hamam, die Sinnlichkeit, die die Massage-Zeremonien bestimmt, gegenseitiges Abklopfen und Bespritzen besänftigten die Rivalitäten nicht, verschärften sie manchmal noch, wenn die richtenden Mütter dabei waren, die mit bekräftigenden Blicken die Zukünftigen ihrer Söhne abschätzten oder besser gesagt auseinander nahmen. Sie sollten schön sein, strahlend, jedoch ohne Dreistigkeit. Das Ziel dieser Anstrengungen war (und ist) aber nicht nur das Mittel, in der Schaufensterauslage zu glänzen. Meine Freundinnen Leila, Djamila, Zhor, Khadidja, Salima, Meriem und die anderen wollen hoffentlich immer noch gern schön sein, weil sie schön sind. Diese Frauen gemeinsam mit all den unbekannten Soldatinnen, den Akteurinnen der Geschichte der Befreiung ihres Landes haben es nur selten geschafft, sich in der Gestaltung ihres Landes durchzusetzen. Sie sind überwiegend Gefangene der Tradition geblieben, trotz der Hoffnung, die von der grandiosen Demonstration der Frauen 1964 in den Straßen Algiers hervorgerufen wurde. Ihre Töchter waren es, die sich gegen den Familien-Kodex mobilisierten, der 1964 „gewählt“ wurde und sie weiterhin der patriarchalen Ordnung unterwirft, trotz ihres oft mit Erfolg gekrönten Willens, beruflich und persönlich erfolgreich zu sein.

Bei der Hochzeit einer dieser Pensionärinnen der Villa in Salammbô begegnete ich Ben Bella, „Si Ahmed“, und bald weniger förmlich „B.B.“ . Die fünf „Historischen“ (die Gefangenen von Aulnoy ) waren im Stadtteil Montfleury untergebracht worden, wo ich damals wohnte. Ich sah die Warteschlange vor ihrer Tür. Ich hatte auf die Einladungen zu den Höflichkeitsbekundungen nicht reagiert. Ich befand mich im Salon, der für die Frauen reserviert war, als Ben Bella, Bitat und Aït Ahmed ihren Auftritt hatten. Ben Bella lud mich zu einem Frühstück ein „wann ich dazu Lust hätte, er würde mich gern kennenlernen“. Er erinnerte mich lachend daran, dass er auch ein wenig Marseiller sei, als ehemaliger Fußballspieler, und gestand, dass er sich immer noch für Olympique Marseille interessieren würde. Er erwähnte sogar eine Briefpatin aus dem Krieg, die in dem volkstümlichen Stadtteil Le Rouet wohnte. Alle, die den Film Indigènes gesehen haben, werden nicht erstaunt sein. An jenem Tag unterhielt ich mich mit Aït Ahmed. Ich fand, dass er professorenhaft redete. Wir sprachen über Alphabetisierung. Seine Idee „Qualität“ statt „Quantität“ störte mich so sehr, dass ich ausstieß: „Ihre Großmutter kann bestimmt lesen und schreiben!“ Das konnte er nicht verstehen. Danach habe ich ihn nur noch einmal getroffen, fern von diesen kabylischen Bergen in den Alpen der französischen Schweiz, als er die Piste des Gletschers in den Diablerets hinunterfuhr. Später habe ich seine Hartnäckigkeit bewundert, die Mauern einzureißen, die einen algerischen Weg zur Demokratie verbauen, wohingegen ich sein Engagement in der kabylischen Revolte 1963 nicht begriffen hatte, wobei mich tatsächlich entschuldigt, dass ich keine Algerianität habe.

Ich frühstückte mit Si Ahmed. Es dürfte Anfang Juni gewesen sein, einige Tage vor der Versammlung des Nationalen Komitees der algerischen Revolution (CNRA), die nach Aussage von Zeugen, denen ich kaum glauben mochte, in einer Schlägerei endete. Man war Zuschauer von Debatten, die nach den Aussagen eines Teilnehmers als „blutig“ zu bezeichnen waren und um den Gründungstext der künftigen Republik gingen, die Charta von Tripolis, die mit Modifikationen angenommen wurde, wodurch sie für eine soziale Politik offener wurde als die vom GPRA befürwortete. Dieser gleitende Übergang sei möglich gewesen, immer noch nach Aussagen meiner Informanten, dank der Hartnäckigkeit, manche nannten es Gerissenheit, von Ben Bella und seinen Freunden. Aber wer war das: seine Freunde? Ich wusste nichts über die Absprachen zwischen Ben Bella und dem Generalstab. Obwohl mich selbstverständlich niemand nach meiner Meinung fragte, gehörte ich zu denen, die den Eindruck hatten, dass die ideologischen Bestimmungen des GPRA nicht zu einer „partizipativen“ Demokratie führten, sondern zu der eines Staates, der allein die städtische Bourgeoisie vertritt und sich nur um sie kümmert.

In den letzten Wochen hatte die Vendetta mit ihren wechselnden Allianzen zwischen verschiedenen Fraktionen des FLN das Unterfangen erleichtert, den Generalstab des ALN zu destabilisieren, der sich über die Zerwürfnisse im Kern des GPRA freute und ebenso über die Differenzen zwischen ihm, den Emissären der französischen Föderation und den Vertretern von dem, was noch übrig war vom inneren Widerstand. Die Scharmützel knallten so stark, dass auch der schlichteste Mitstreiter ihren Pulvergeruch wahrnahm. Einige jedoch hatten sich den ideologischen Affinitäten entsprechend gruppiert und versuchten mehr oder weniger heimlich mitten in dieser Kakophonie, über das Projekt eines Textes für die künftige Charta nachzudenken, die die Politik des künftigen algerischen Staates orientieren sollte. B.B. wollte meine Meinung wissen, die eines Mediziners, über die Organisierung des Gesundheitswesens und auch des Bildungswesens. Er beschränkte seine Kommentare nicht auf die technischen Aspekte der medizinischen und sozialen Politik. Er sprach von den Frauen, den Bauern, den Clans. Ich war verblüfft, dass er sich für die Bauernschaft interessierte. Für sie hatte er ehrgeizige Ziele. Das war ziemlich neu, denn wenige Verantwortliche (von jenen, mit denen ich gesprochen habe) machten trotz der offiziellen Erklärungen den Eindruck – obwohl die überwiegende Mehrheit der Soldaten Landarbeiter waren –, sehr besorgt um die Situation der Fellahs und der Besitzer von Landstücken zu sein, die lächerlich klein waren, nicht nur im Vergleich zu den Latifundien der Kolonisatoren, sondern auch zu den landwirtschaftlichen Betrieben mit einigen Hundert Hektaren, die Algeriern gehörten – die meisten waren Beamte in der Kolonialverwaltung. Ich fasste Mut und packte zum ersten Mal all meine Enttäuschungen, Zweifel und Empörung aus. Ich stellte mir die Frage nach dem Überleben in dieser Arena. Wenn sich die Spielregeln nicht änderten, würden Vetternwirtschaft, Gefälligkeiten und faule Kompromisse die Politik säugen. Wenn ich von den Diskussionen in einem Kreis von zehn Freunden absehe, war es das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich mich rückhaltlos äußerte. In einem Wort: Der Funke sprang über. Ich ging erneut zum Frühstück mit B.B..

Der FLN hatte beschlossen, ab April die Kranken in ihr Land zurückzubringen, bevor die Exilierten, Flüchtlinge, Zwangsumsiedler, Militärs, Zivilisten, Esel, Schickeria, LKW massenhaft über die Grenze kamen. Diese Verlegung sollte zum psychiatrischen Krankenhaus in Blida geschehen, wohin ich mich später heimlich wie ein gewöhnlicher Flüchtling begeben würde. Außer den Patienten aus den Häusern von Bardo und La Marsa sollten Verletzte mit neurologischen Folgen sowie einige schwere Epileptiker, die ich pflegte, auf dem Konvoi mitgenommen werden. Die Redaktion der Krankenakten, die Organisation der Reise mit einem Spezialzug, die stattfinden würde oder doch nicht, weil Befehle und Gegenbefehle auf internationalem Niveau Pingpong spielten, ließen mir wenig Muße. Unter der Ägide des algerischen und tunesischen „Roten Halbmonds“ wurden die Kranken in Gruppen eingeteilt, und der Tag kam, an dem der Zug sich für eine Fahrt in Gang setzte, deren Dauer voraussichtlich drei Tage betragen würde. Ein Arzt wurde als Begleiter verlangt. Die drei Krankenpfleger erzählten mir ihr Epos. Sie priesen mich, dass ich den Vorrat an Beruhigungsmitteln großzügig vorgesehen hatte. Manche Kranken wurden gesund wie verhext, als sie nahe ihrem Zuhause vorbeikamen. Nur wenn man auf sie schoss, konnte man sie zurückhalten. Hamdoullah!

Der Sprung

Das provisorische Exekutiv tagte seit dem 7. April 1962 in Rocher Noir, einer neuen Verwaltungssiedlung, die einige Jahre zuvor hastig im Osten von Algier gebaut worden war. In dieser Übergangsperiode war die Verwaltung weiterhin Französisch, ihre Armee noch präsent und ihre Geheimpolizei ebenfalls. Es handelte sich nur um einen Waffenstillstand. Die Algerier konnten sich in ihrem Land herumbewegen. Für uns Franzosen auf der Flucht sollte die Amnestie noch einige Jahre warten. Ich musste mich trotzdem nach Rocher Noir begeben, um die algerischen Verantwortlichen zu treffen, die die Eingliederung unserer Kranken in das psychiatrische Zentrum von Blida leichter machen sollten.

Es waren noch wenige Tage bis zum Referendum über die Selbstbestimmung, die Algerien den Algeriern zurückgeben sollte. Amara, Abdelhamid und ich hatten beschlossen, in meinem privaten Auto „nachhause“ zurückzukehren (unausgesprochen: nach Algerien), in einem fast neuen Fiat, verglichen mit den Klapperkisten, die uns auf dem Heimweg meiner Gefährten begegneten, der für mich jedoch der Weg ins algerische Abenteuer war. Mein Projekt hatte hier und da einige Vorbehalte ausgelöst, aber in Kenntnis meines dickköpfigen Individualismus lieferte man mir den Personalausweis einer algerischen Flüchtlingsfrau. Außerdem besorgte man mir einen Passierschein, der mir den gelegentlich verlängerten Aufenthalt in einem der Verteilungszentrun am Rande der Morice-Linie ersparen sollte.

Erschöpft erreichten wir das Lager nach der Grenze gegen 16 Uhr. Ich unternahm einige Behördengänge, um zu versuchen, einige Plätze in den Warteschlangen zu erhalten (wie man in Algier sagt), wo man einen runden Stempel hier und einen dreieckigen anderswo bekommt. Dann gab es noch die Gesundheitskontrolle für die Menschen und die viel pedantischere für die Fahrzeuge. Unser Fiat hatte wie alle anderen ein Stockwerk erreicht, wo Unordnung herrschte, die allen Misstrauen einflößte, so dass sie ihre Schatztruhe sorgfältig zugedeckten. In dieser Karawanserei, die in einigen Bereichen einem afrikanischen Markt glich, in anderen dem Flohmarkt an der Pariser Porte de Montreuil, bereitete es meinen Gefährten keine Schwierigkeiten sich durchzuschlängeln. Sie mussten sich verbergen, schließlich desertierten sie… Jungs von Boussouf, die schon seit langem ernüchtert waren – wie andere auch, die ihre Lehrzeit im Wilaya V um Oujda absolvierten, der zur Hochburg von Boussouf und seinem jungen Freund Boumedienne werden sollte.

Glücklicherweise erkannte ich – eingehüllt in meinen staubigen haïk (Schleier) und in mein Schweigen vermauert – nach einer guten Stunde Auf-der-Stelle-Tretens einen meiner früheren Kranken inmitten der geschäftigen Bürokraten. Er erledigte den ganzen Papierkram im Sturmschritt, wobei er gegen den GPRA grummelte – immer diese Etappenhengste –, die mich nicht einmal einem Chauffeur anvertraut hatten. Ich musste ihm gestehen, dass ich mit zwei „Brüdern“ sei, die mich nach Blida fahren würden. ¬Obwohl ich ihm wiederholt sagte, dass Djamila Moktefi in ihre Schleier gewickelt nicht die Doktorin Annette sein könnte, präsentierte er mich jubelnd seinen Kumpeln. Schließlich machte er eine kleine ruhige Ecke für unser Auto ausfindig, das um die Inspektion herumkam. Unser Treffen zum heimlichen Abschiednehmen fand bei Freunden statt. Wir hatten in Form von unauffälligen Päckchen das Weggepäck meiner Gefährten zwischengelagert, im Wesentlichen Bücher, und die Geschenke für alle Familienmitglieder,, ohne die zahlreichen Kinder zu vergessen, die während der Abwesenheit des Onkels geboren waren. Während des Abschiedsfrühstücks machte jemand eine Anspielung auf die Minen, die einem die Beine zerfetzen. Diese Waffen gegen Menschen lagen schon an den Rändern der beiden Pisten, die für Flüchtlinge geöffnet wurden, auf der Lauer. Ablamid merkte an: „Wir hätten eine Bratpfanne klauen sollen.“ Marie-Jeannes freundschaftliches Herz war sofort angesprochen. Heimlich legte sie ihr bestes Küchengerät in unser Fahrzeug. Wir haben viel gelacht und unseren Talisman behalten. Wir beschlossen, den Tagesanfang beim Auto abzuwarten, um die Morice-Linie zu überqueren, ohne uns einem Konvoi anzuschließen. Wir starteten auf Reifen- wie auf Zehen-Spitzen, nachdem wir uns vergewissert hatten, dass uns von unserem Gepäck nichts abhandengekommen war. Wir hingen ganz besonders an unserer Bratpfanne, die auf dem Koffer festgebunden war, der auf dem Dach herumschwankte.

Trotz des sanften Morgenlichtes war es düster. Ein Buschwerk aus Eisendrähten mit seinen Wachtürmen legte sich in meinem Erinnerungsfeld über die Bilder aus „Nuit et Brouillard“ . Wir waren schweigsam und schwermütig. Ich stellte mir das Gefühl meiner Gefährten vor, die endlich diesen Staudamm zerstörten, der sie im Exil eingesperrt hatte.

Das algerische Fest

Das erste algerische Dorf, Fahnen, Fanfare, nationale Identitätskontrolle. Der beste Tisch der besten Hütte war mitten auf die Piste gestellt worden und diente als Büro. Obwohl es die Zeit der Siesta war, ließ unsere Ankunft die ganze Dorfgemeinschaft zusammenlaufen. Hundert Menschen, vielleicht mehr, kamen aus ihren niedrigen Häusern und den Höfen, die von niedrigen Lehmwänden umgeben waren. Die jungen Frauen zeigten uns ihre Babys, die alten streichelten uns, die alten Männer gaben mir einen Wangenkuss, als wäre die Umarmung nicht für Männer reserviert. Mit einem Glorienschein aus Staub waren wir in Claire-Fontaine . Drei Bäume saugten an der Quelle, die in dieser Wüste ihren hübschen Namen rechtfertigte, der in grüner Schönschrift dort stand und auf Arabisch die schwarzen Schriftzeichen des Hinweispfahls des französischen Straßen-Amtes überschrieben hatte. Auch das Register wurde auf Arabisch geführt, zum Glück unterzeichnete mein Gatte für mich, wie es sich gehört.

Das war nicht unser erster Halt. Auf dem Plateau dehnte die bleierne Sonne mittags unsere Kiste aus Blech. Eine Wasserstelle, Pumpe und Tränke für Kamele. Wir beschlossen ein Bad, das von der Ankunft eines Lieferwagens abgekürzt wurde, in dem mehrere Familien gestapelt waren. Ich war hastig ins Auto zurückgestiegen, um meine Halbnacktheit in meinem Schleier zu verstecken, wobei ich den Kopf abwendete, als die Frauen sich näherten, um Bekanntschaft zu schließen. Wir starteten wie Diebe, wobei Amara mich daran ermahnte:

– Du verschleierst dich, und du schlägst die Augen nieder… kein Problem, die Männer sprechen für dich…

Ich musste auf eigene Kosten lernen, dass die Männer – im Schatten der Moschee aufgewachsen, sogar ohne jemals hineingegangen zu sein – für die Frauen sprachen, weil sie in der damaligen Zeit (und wie steht es heute damit?) überzeugt waren, dass Frauen nicht denken könnten.

Es war dunkel. Geschrei kündigte Constantine an. Obwohl ich die Befreiung von Marseille miterlebt hatte, konnte ich mir ein solches Spektakel nicht vorstellen. Zehntausende Frauen, Männer, Kinder tanzend, schreiend, sich umarmend und Youyou-Rufe ausstoßend. Frauen entschleiert, oft mit nackten Armen zeigten sie auch ihre Waden und küssten den Nächstbesten, bevor sie beseligt wieder die Hand ihres Mannes ergriffen.

In diesem Strudel, der uns ergriff, weil es ein außergewöhnlicher Tag war, schien alles von selbst zu gehen. Ich war deshalb nicht überrascht, als in dieser Farandole die Hand, die meine ergriff, die von Daksi war. Wir brauchten dennoch einige Sekunden, bis wir einander in die Arme fielen. Ich denke oft an diese Nacht zurück, die mich heute zu der aufschlussreichen Geschichte von Djha zurückbringt, dem Marius von dort unten.

„Djha ist gerade gestorben. Er steht vor dem Allmächtigen, der ihn abkanzelt und zu ihm sagt: ‚Du verdientest die Hölle, doch wissend, dass deine Streiche deinem Nächsten gegenüber niemals verhängnisvoll sein wollten, wäre ich geneigt, dir die Absolution zu erteilen und dich ins Paradies zu lassen, nachdem du zwei oder drei Tage in der Hölle verbracht hast.‘ Djha dankt demütig und lässt sich führen. In der Hölle fließt der Wein in Strömen, es ist das erste Mal, dass er ihn anrührt, die Frauen sind schön und zuvorkommend, man lacht und singt. Djha wird zugehört, man verlangt noch weiteren seiner Geschichten. Er hat Freunde. Sogar sein Esel ist zu ihm gekommen. So bittet er, als der Gesandte Gottes ihn abholen kommt, um ihn ins Paradies, dieses liebliche Eden zu führen, um die Gunst, in der Hölle zu bleiben. Einige Tage vergehen, bis die Hölle das wird, wovor sich alle fürchten. Djha regt sich fürchterlich auf, geht von einem seiner Gefährten im Unglück zum nächsten und fragt sie, was passiert: ‚Nichts Besonderes. Du bist in der Propagandawoche angekommen!‘“

Wie lange hat in Algerien die Propagandazeit gedauert! Drei Jahre, ein wenig mehr?

Nach dieser verrückten Nacht des 1. Juli 1962 in der trügerischen Hölle von Djha erreichten wir dank der riesigen Fahne, die Daksi uns gab, mit vollen Segeln Blida., um Abdelhamid dort abzusetzen. Als Väter, Mütter, Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen, Nachbarn einer nach dem anderen das gesegnete Kind und seine Freunde in den Armen gehalten hatten, als unter dem Laubengang aus Jasmin die Sessel leer waren, erhob sich die Sonne zum zweiten Tag meines Algeriens. Amara beschloss, mich mitzunehmen, zu ihm nachhause in Berrouaghia, um seine Freude und die seiner Familie zu teilen. Der Vater, Mohand, ein würdiger Mann, der das Tagelmust und die bauschige Hose trug, machte mir die Ehrenbezeugungen seines Hauses und führte mich, was anscheinend ein großes Privileg war, in die für ihn reservierte Ecke unter dem Feigenbaum im Garten, von wo er die vier oder fünf Schafe beaufsichtigte, die auf einer blassen Wiese von ein paar Morgen weideten. Die Mutter, deren Kopftuch das inzwischen etwas vage Oval ihres Gesichts umrahmte, das schön gewesen sein musste, hielt mich lange in ihren Armen und gab so ihren Schwiegertöchtern grünes Licht für Freundschaftsbekundungen, die mit Überlegungen gespickt waren, aus denen die Neugier auf die Französin ihres Bruders zu erkennen war. Das war ein großartiger Tag.

Amara bestand darauf, mich nach Rocher Noir zu begleiten. Weiterhin mit schamvoll geschlossenen Augenlidern präsentierte ich ein wenig unruhig meinen Passierschein dem französischen Soldaten, der Wache stand vor dem doppelköpfigen franco-algerischen Parlament der Übergangszeit zwischen dem Waffenstillstand, der Proklamation der algerischen Republik und der Konstituierung ihrer rechtmäßigen Regierung. Ich traf Abderrazak Chentouf, Chawki Mostefaï und einen dritten Mann, von dem ich nur den Vornamen erinnere, der derselbe wie der von Boumedienne war.

Es wurde abgemacht, dass ich in Blida wohnte, wo sich ein Arzt, der sich um meine Patienten kümmern sollte, mit mir treffen würde. Ohne Erklärung wurde mir verboten, mich nach Algier zu begeben. Man teilte mir ein Einzimmer-Appartement in einem Sozialbau zu, der in aller Eile gebaut worden war, um die algerischen Hilfskräfte der französischen Armee unterzubringen. Das war eher erbärmlich. Das müsste unbewohnbar sein… und doch hatte ich einen Nachbarn, einen französischen Gendarmen mit elsässischem Akzent, der genauso verloren wie ich war und sehr liebenswert, insbesondere wenn er der Anisette etwas kräftiger zugesprochen hatte. Er wirkte durch meine Anwesenheit nicht beunruhigt, aber seine machte mich stutzig.

Um den 25. Juli, einige Tage nach der Proklamierung von Tlemcen , wo das Politbüro eingesetzt wurde, das Ben Bella wollte und leitete, wurde ich autorisiert, (von wem?), mich nach Algier zu begeben, wo man mir ein Einzimmer-Appartement im Studentenwohnheim zuteilte, das auf den Höhen über Algier in Ben Aknoun lag.

Dort war es, wo der Bote von Nekkache mich auffand. Der Kampf zwischen umstürzlerischen Gruppen wurde härter, die Provokationen kamen eher von denen, die schwere Waffen besaßen. Das sage ich heute, aber in jenen fiebrigen Monaten fand ich mich denen an den Grenzen näher, die mich einige Monate zuvor anekelten. Wie so viele damals dachte ich, dass Ben Bella und seine zusammengewürfelte Gruppe, in der die „linken Eliten“ sehr aktiv waren, Algerien aus der Krise hinausführen und einen neuartigen Versuch einer „Volksdemokratie“ ohne Bezug auf das sowjetische System versuchen könnten. Die Anwesenheit von Trotzkisten in Ben Bellas Lichthof schien uns gegen eine Sowjetisierung zu schützen. Das jugoslawische Modell stand eher auf der Tagesordnung. Man musste was machen. Man schlug mir vor, im Falle einer Präsidentschaft von Ben Bella eine Rolle in der Politik des öffentlichen Gesundheitswesens zu spielen. Ich behielt mir die Antwort vor, und trotzdem, einige Tage nach dem Einmarsch der Armee in Algier, ohne es wirklich gewünscht zu haben, dorthin getragen von irgendeinem mir unklaren Ostwind, fand ich mich in einem Ministerium wieder und verkehrte dort mit Individuen, die ich einige Monate zuvor nicht begrüßt hätte.

Glaubte ich blind an das, was ich machte, oder schloss ich mich in der Blase meiner kleinen Macht ein, überrumpelt und in den Netzen der Versessenheit gefangen, ein Ziel zu verwirklichen? Ohne Zweifel beides.