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Lionel Duroy: Winter der Menschen, Roman
ISBN 978-3-943446-28-9
304 Seiten
Preis 18,00 €
Der französische Journalist Marc forscht über die Kinder von Kriegsverbrechern. Dieses Interesse führt ihn 2010 in die Serbische Republik in Bosnien und deren Hauptstadt Banja Luka. Die Tochter Ana des wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Den Haag angeklagten Generals Ratko Mladič hatte sich 1994 mit der Waffe ihres Vaters umgebracht. Von Mladič und seinen Anhängern wurde dagegen behauptet, sie sei ermordet worden. Um dieser Frage nachzugehen, begibt Marc sich mit seinem Übersetzer Boris auf die Seite der Täter und spricht mit ihnen. Erst in Banja Luka, dann in Pale, in den tiefverschneiten Bergen, trifft er auf die bosnischen Serben, die überzeugt sind, dass ihr General ein Held ist und die Welt in der Verurteilung der Massaker von Srebrenica und anderen Orten Falschmeldungen aufsitzt. Sie fühlen sich als Sieger, sie haben Muslime und Kroaten verjagt, aber nun werden sie von der eigenen Regierung verraten, die Mladič fallen ließ. Marc geht mitten hinein in die verschworene Gemeinschaft und hört sich ihre Seite der Geschichte an, ihre Erlebnisse von Verfolgung, Ermordungen, Hass. Sie haben keinen Frieden gefunden, Sarajewo wird von den bosnischen Muslimen bewohnt, denen sie an allem die Schuld geben. Lionel Duroy als Marc gelingt es, ohne die eigene Position zu verlassen, die in den Gesprächen zwischen Marc und Boris aufscheint, die Erzählungen und die Persönlichkeiten seiner Gesprächspartner so überzeugend zu schildern, dass man daran zu zweifeln beginnt, es könnte eine einfache Wahrheit geben. Am Ende begibt Marc sich nach Sarajewo, selber von der Angst vor den Muslimen fast angesteckt, und erlebt eine befreiende Überraschung.
Lionel Duroy (Jahrgang 1949) arbeitete als Journalist für die Tageszeitung Libération und die Wochenzeitung L’Evénement du jeudi. Er veröffentlichte mehr als 12 Romane. Le Chagrin, Der Kummer, erhielt etliche Preise in Frankreich und ist sein erfolgreichstes Werk (auf Deutsch bei Contra-Bass erschienen).
Pressekommentare
Das Buch hat den « Prix Renaudot des Lycéens » erhalten.
Le Monde des Livres : „Der Winter der Menschen ist ein sehr schönes Buch über die Gefängnisse, in denen man auf die Welt kommt und jene, die man um sich herum erbaut… Duroy’s klarsichtige Art zu schreiben leitet den Leser durch diese Kerker. Wie finster der Winter der Menschen auch sein mag bewahrt er doch die Hoffnung, dass ein Ausbrechen trotz allem möglich ist.“
Le Figaro Magazine: „Ein außergewöhnlicher Roman auf Grund seiner Feinheit und Klarsicht“
Übersetzung aus dem Französischen
Übersetzer Gerd Stange
Leseprobe
Als ich mich umdrehe, erblicke ich die Silhouette unseres Gastgebers: ein hochgewachsener Mann, merkwürdig frisiert mit im Nacken zusammengebundenen Haaren trägt er einen Bart, der sein Gesicht im unteren Bereich verbirgt. Er wechselt mit Jovo einige Worte, deren Sinn ich nicht erfasse, aber der Tonfall ist fröhlich, als seien sie glücklich, sich wieder zu treffen , dann wendet der Mann sich mir zu:
– Stanko Janković, sagt er, wobei er die Gelenke meiner Hand zerquetscht.
So viele Monate später erinnere ich mich immer noch, wie sehr ich überrascht bin über die Kälte in seinem Blick. Er macht sich nicht die Mühe zu lächeln, und als ich mich meinerseits vorstelle, erwidert er trocken in perfektem Englisch:
– Ja, ich weiß, Sie sind ein französischer Schriftsteller, Jovo hat mich informiert.
Durch die Veranda gehen wir ins Haus hinein. Es ist feucht, eiskalt, vollgerümpelt mit Gummistiefeln, Angelruten, übereinander gestellten Vogelkäfigen und Gartengeräten. Unser Gastgeber hängt dort seinen Anorak auf, dann geht er vor, und wir klettern eine Holztreppe hoch auf die Etage. Als wir in den Raum eintreten, umhüllt uns sofort eine gute Wärme, und Jovo und mir entfährt ein Ausruf von Wohlsein. Darauf wendet sich eine Frau schnell um und lächelt uns zu. Eine Frau mit hellen Augen, vollen Lippen, die früher schön gewesen sein muss, aber sich gegenwärtig nichts daraus macht, sondern die Haare in langen grauen Strähnen auf die Schultern fallen lässt. Sie war dabei zu malen, vor einer Staffelei auf ihrem Hocker sitzend. Sie legt ihre Pinsel ab, wischt sich die Hände ab und kommt auf uns zu. Jovo macht ihr anscheinend Komplimente, für ihre Schönheit gewiss, denn sie verteidigt sich lachend, dann aber, weil er sie an den Schultern festhält, befreit sie sich, indem sie ihm mit dieser neckischen Art kleiner Mädchen auf die Finger schlägt, die von den Frauen manchmal angewendet wird, die ihr Altern nicht bemerkt haben.
Während sie mir meinen Mantel abnimmt und dabei mich willkommen heißt, erblicke ich die Leinwand, auf der sie einen Moment früher noch gearbeitet hatte: auf einem Rotfuchs ein nacktes Mädchen, dessen dunkles Haar im Wind weht. Also vermute ich, dass die verschlungenen Körper mit haarlosem Geschlecht und die barbusigen Büsten von kleinen Nymphen, die den Raum schmücken, auch von ihr sind.
– Gefällt es Ihnen? erkundigt sie sich auf Englisch.
Ich müsste antworten „Nein, verzeihen Sie mir, ich finde das grässlich, das sagt nichts über das Leben, das ist genauso schamlos und verlogen wie ein Porno-Film“, aber stattdessen höre ich mich liebenswert sagen:
– Wo haben Sie die Malerei gelernt?
– In Triest, ich stamme aus Italien.
-Oh, was für eine schöne Überraschung! Ich mag Ihr Land sehr gern.
– Antonella, sagt sie, als sie mir die Hand gibt.
– Marc.
Dann erfasst sie mich beim Handgelenk:
– Kommen Sie, setzen Sie sich. Wollen Sie einen italienischen Wein trinken?
– Mit Vergnügen. Es ist dermaßen kalt draußen …
Wir setzen uns an den Tisch. Der Mann schließt sich uns nicht an, er hat sich dicht an den Ofen auf den Sessel gesetzt, auf dem er sich wohl schon befunden hat, bevor er hinausgehen musste, um uns mit seinem dicken Auto in der Vorstadt aufzulesen, so dass Jovo uns halb den Rücken zukehrt, damit er weiter mit ihm plaudern kann. Beide sprechen mit leiser Stimme in ihrer Sprache, während Antonella unsere Gläser füllt. Erst da bemerke ich, dass sie und ihr Mann dieselbe nachlässige Kleidung tragen, einen fusseligen, entfärbten Winterpullover über der Hose von einem Trainingsanzug. Er mit seinem im Nacken zusammengebundenen Haar und dem Bart, sie mit ihren langen, verblichenen Haaren auf den Schultern, man würde schwören, dass sie ein Paar alter Hippies sind, sage ich mir.
Jovo hebt sein Glas, er deklamiert etwas für mich Unverständliches, und wir stoßen würdevoll auf diese Sache an. Der Raum ist gemütlich, von warmem Licht erhellt. Wer würde erraten, wenn er in der Nacht über diesen kaum befahrbaren Sandweg aus Belgrad käme, wie wir es gerade hinter uns haben, dass ein solcher Ort existieren könnte, wenn er zwischen den schwarzen Bäumen die Glühbirne auf der Veranda im Regen leuchten sähe? Wer würde das erraten? Aber während ich unauffällig meinen Blick über die Wände wandern lasse, um Fenster zu finden, die man mit Sorgfalt verborgen hat, ist plötzlich ein langes Heule zu hören.
– Was ist das? erkundige ich mich bei Antonella.
– Ein Schiffssirene.
– Sind wir denn so nah an der Donau?
– Sie fließt direkt unter uns. Wenn Sie den Weg weitergefahren wären, auf dem Sie angekommen sind, wären Sie auf sie gestoßen.
Der Mann ist aufgestanden, um wieder einen Holzscheit in den Ofen zu werfen, und als ich ihn im Profil beobachte, bin ich über den asketischen Ausdruck seines Gesichts erstaunt: hohle Wangen, eine lange Nase mit zusammengekniffenen Flügeln, tief in die Höhlen versenkte Augen und dieser Bart, der ihm das Aussehen eines Mönches verleiht.
Dann verschwindet er, anstatt sich wieder zusetzen, hinten im Raum. Jovo macht eine Bemerkung über ihn, die Antonella anscheinend verärgert.
– Not at all, gibt sie schroff auf Englisch zurück, als wollte sie ihm nebenbei noch bedeuten, dass es unhöflich ist, in meiner Anwesenheit weiter Serbisch zu sprechen.
Stanko Janković taucht fast im selben Moment wieder auf, mit einer Zeichenmappe unter dem Arm. Er öffnet sie auf dem Tisch und schiebt ein Foto unter Jovos Augen, ohne mich zu beachten.
– Darf ich sehen? sage ich einen Augenblick später, als ich sehe, dass Jovo sich schweigend in das Bild vertieft.
Darauf passiert etwas Merkwürdiges, man könnte meinen, dass der Mann mir plötzlich für das Interesse dankbar ist, das ich ihm entgegenbringe.
– Ja, sagt er, für sie habe ich sie hergeholt.
Er nimmt eine andere Vergrößerung und reicht sie mir. Man sieht auf ihr den General Mladić aufrecht auf einem Grat stehend, wie er mit ausgestrecktem Arm seinem Nachbarn etwas zeigt, der ihn um einen Kopf überragt.
– Der englische General Rose, nicht wahr?
– Ja, vor Gorazde.
Ein dritter Mann, fast genauso lang und mager wie Michael Rose, hält sich im Hintergrund.
– Und hier, das bin ich, sagt kaum hörbar Stanko Janković.
Er gesteht es beinahe unter Schmerzen, ist mein Eindruck, jedenfalls so stark, dass ich meinen Blick zu ihm hebe, der über uns stehen geblieben ist.
– Das versteh ich nicht, sage ich lachend in gespielter Gleichgültigkeit, als wäre all das nur anekdotisch, wollen Sie mir sagen, dass Sie bedauern, auf diesem Foto zu erscheinen?
– Oh nein, das wollte ich nicht sagen.
– Ach so, entschuldigen Sie.
Mich wieder dem Foto zuwendend muss ich mich anstrengen, in dem Adlergesicht dieses jungen Obersten den Mann mit Haarband zu erkennen, der neben mir steht.
– Nein, setzt er sanft, aber mit festerer Stimme fort, ich bedaure, dass wir, die wir den Krieg gewonnen haben, gezwungen sind, uns wie Kriminelle zu verstecken.
Da ich nichts antworte, sondern die Worte langsam in mich eindringen und ihren Weg finden lasse, anfangs mit Erstaunen, dann mit wachsendem Entsetzen, wobei ich mir den Anschein gebe, von dieser Kriegsszene oberhalb von Gorazde gefesselt zu sein, reicht er mir ein anderes Foto. Auf ihm wendet sich General Mladić auf Munitionskisten hockend an seien Truppen, während Oberst Janković zu seiner Rechten steht, sehr aufrecht mit den Händen auf dem Rücken.
Dieser Mann lebt also in der Angst, verhaftet zu werden, sage ich mir und frage mich zugleich, welches Argument Jovo gefunden haben kann, um ihn zu überzeugen, mich zu empfangen. Und welche Garantie hat er ihm geben können, dass ich ihn nicht denunzieren würde? Keine. Als ich Jovo fast zwanzig Jahre, nachdem ich ihn in Bràko kennengelernt hatte, von Paris aus anrief, habe ich ihm nur gesagt, dass ich gern über die Kinder von denen schreiben würde, die den Krieg gemacht hatten. Mit welchem Blick sie, erwachsen geworden, heute ihre Väter betrachteten? Seit Jahren interessiere ich mich für die Kinder der Nazi-Würdenträger. Ich habe mir alle Zeugenaussagen beschafft, die zu geben sie bereit waren, und als ich sie unermüdlich gelesen habe, empfand ich immer wieder dasselbe Gefühl für die Verwirrung, die sie ausdrücken, wenn sie ihren Vater mit einer Art Fanatismus verteidigen, wie Gudrun Himmler oder Wolf Rüdiger Hess, oder ganze Bücher lang verabscheuen und beschimpfen, wie Niklas Frank es tut, das jüngste Kind von Hans Frank, dem Generalgouverneur von Polen während des Zweiten Weltkriegs.
Während ich mich im Stillen frage, warum Oberst Janković sich entschlossen hat, mir zu vertrauen, reicht er mir ein drittes Foto.
– Der Präsident, sagt er feierlich.
Ich erkenne Radovan Karadžić, der in sommerlicher Hitze auf der Terrasse eines Cafés an einem Tisch sitzt, als einziger Zivilist inmitten von etwa zehn verlotterten Militärs.
– Hotel Panorama in Pale, präzisiert Janković für mich.
– Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass dieser Mann heute in Den Haag im Gefängnis ist, sage ich, angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
– Die die Kriege gewonnen haben, machen die Gerichte, bemerkt unser Gastgeber ruhig, aber die Geschichte wird zeigen, wer Recht hatte. Präsident Karadžić hat diesen Krieg nicht gewollt, wie Sie wissen. Ich kann bezeugen, dass er ihn widerwillig geführt hat.
Erlegt die Bilder in die Zeichenmappe zurück und setzt sich diesmal zu uns an den Tisch.
– Als die Kämpfe in Sarajewo angefangen haben, setzt er fort, waren die Muslime und die Kroaten deutlich besser organisiert als wir Serben. Sie defilierten mit ihren Waffen auf den Straßen, wohingegen wir die Kasernen nicht verließen. Ich habe Karadžić aufgesucht und ihm vorgeschlagen, dass die Serben schnell ihre eigene Armee aufstellen, weil die Kroaten und die Muslime es schon getan hatten. „Warum?“ hat er mir geantwortet. „Wir haben die jugoslawische Armee.“ Er hat sich nicht bewegen wollen. Einige Zeit später bin ich wieder zu ihm gegangen, um ihm Bescheid zu sagen, dass wir das Fernsehen von Sarajewo sprengen würden. Die Muslime hatten sich seiner bemächtigt und benutzten es für ihre Propaganda. Karadžić hat einen fürchterlichen Wutanfall bekommen. „Wer hat euch aufgefordert, diese Operation zu organisieren?“ hat er geschrien. „Ich verbiete euch, dieses Gebäude zu sprengen.“ Wir mussten die Sprengsätze, die wir schon platziert hatten, wieder einsammeln, und damit wir beim Verlassen des Hauses nicht auffallen, haben wir sie an unsere Beine gebunden, unter die Hosen.
– Sie waren also bei Kriegsbeginn in Sarajewo?
– Ich bin hier geboren, wo Sie mich sehen, in Vinca, diesem Marktflecken, dann habe ich die Militärakademie absolviert und habe Kommandos ein wenig überall erhalten, in Novi Sad, in Zadar, in Split, bevor ich nach Sarajewo berufen wurde. Vor dem Krieg hatte ich kein Bewusstsein dafür, Serbe zu sein, und auch nicht, dass die Militärs, mit denen ich tagtäglich zu Mittag aß, Kroaten oder Muslime sein könnten. Vor dem Krieg waren wir alle Jugoslawen.
– Wann haben Sie begriffen, dass der Krieg Sie gegeneinander aufbringen würde?
– Ich habe an dem Tag, als die ersten Granaten auf Zadar in Kroatien gefallen sind, die Eingebung gehabt, dass etwas Schwerwiegendes sich ereignete. Ein befreundeter Offizier, der aus Zadar stammte, hat mich aufgesucht: „Die jugoslawische Armee, meine Armee, bombardiert Zadar, meine Stadt. Was würdest du an meiner Stelle machen?“ hat er mich gefragt. „An dem Tag, an dem unsere Armee Vinca bombardiert,“ habe ich ihm geantwortet, „werde ich desertieren.“
– Das hätten Sie gemacht? Sie wären desertiert, wenn Vinca bombardiert worden wäre?
-Nein, gibt er ganz leise zu, nachdem er einige Sekunden überlegt hat, ich bin Berufssoldat, ich wäre nicht desertiert.