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Wolf Reuter: China Balance

Wolf Reuter erzählt spannend von einer Chinesin und einem Briten, die im heutigen China versuchen, aus dem allumfassenden Kontrollsystem zu entkommen, und gleichzeitig blättert er ein Kaleidoskop von Menschen, Bildern und Gerüchen der Städte und des weiten, einsamen Landlebens vor uns auf. Der britische Fotograf Robin wird in Hongkong während einer Demonstration von einem Wasserwerfer zu einer jungen Frau gespült. Shenmi soll im Auftrag „ihrer Organisation“, dem Geheimdienst, die Demonstranten fotografieren.
Robin hat eher zufällig ein verbotenes Foto gemacht. Shenmi wird von ihrer „Organisation“ auf ihn angesetzt, damit er die Bilder herausgibt. Shenmi und Robin verstricken sich in ein Gewebe aus Neugier aufeinander, Versteckspiel und Annäherung. Aber der chinesische Überwachungsapparat schaut nicht nur zu. Sie beschließen einen Fluchtweg ins Ausland zu suchen. Aber Shenmi zweifelt immer wieder, ob sie ohne diesen Zusammenhalt in der Fremdheit westlicher Gebräuche wird leben können.

Roman von Wolf Reuter
ISBN 
978-3-943446-63-0
Softcover, 292 Seiten
Preis 
19,00 € D/A/CH
Erscheinungsdatum
 1.11.2022

Leseprobe
Er war nicht der einzige Reporter. Auf der anderen Straßenseite, an die Glaswand eines Schaufensters gelehnt, sah er eine junge Chinesin in schwarzer Kämpferkleidung, aber ohne Helm, ein Etikett mit dem Wort „Press“ auf dem T-Shirt, mit kleiner Kamera, die hauptsächlich in ihrer unmittelbaren Umgebung fotografierte. Er beobachtete, dass auch sie möglichst direkt auf Kampfszenen hielt, wurde dann aber Zeuge von einem Vorgang, den er sich nicht erklären konnte. Einige Demonstranten kamen von hinten, umringten die Frau und redeten drohend auf sie ein. Sie schien, während zwei ihr über die Schulter schauten, die Bilder auf ihrem Kamerascreen zu zeigen. Sie wies in seine Richtung, die Umstehenden gestikulierten ablehnend.
Robin wandte sich wieder dem Geschehen in seiner Nähe zu, sah, wie Polizisten ihre Knüppel einsetzten, dass ihn das Geräusch des Auftreffens zusammenzucken ließ. Manchmal kam es zu einem Kampf, in dem zwei Männer ihren Mut, ihre Geschicklichkeit und Härte maßen. Er hatte Schwierigkeiten, in dem dichten Getümmel den Überblick zu behalten, sein Zoom überlegt einzustellen auf die Krieger, wie sie plötzlich vorstürzten, wieder zurückwichen, um sich den Greiftrupps der Polizisten zu entziehen, auf ein blutendes Gesicht oder rauchende Tränengasgranaten auf dem Asphalt. Zwei Uniformierte schleiften eine Frau über den Boden, feuernde Gewehre mit dickem Lauf, eine gekrümmte Figur, ein wutverzerrtes Gesicht hinter dem Plexiglasschild. Tausend Bilder in weniger als einer halben Stunde.
Plötzlich erschienen hinter den Polizeireihen zwei riesige gepanzerte Wagen. Er richtete die Kamera auf die monströsen Ungeheuer. Das hatte Ausdruck. Sie kamen sehr langsam. Neben den Ungeheuern gingen drei Männer in besserer Uni-form, sowie zwei Zivile mit Krawatte, aus der höheren Verwaltung wie er vermutete, Einsatzleitung. Er hatte nicht viel Zeit, sie einzuordnen, holte sie mit dem Zoom heran, drückte ab, zehnmal, zwanzigmal. Da schoss ein breiter Strahl direkt auf ihn zu. Er hatte noch Zeit, die Kamera herunterzureißen und zwischen seine Beine zu klemmen. Die Härte hatte er nicht erwartet. Es traf ihn auf die Brust, dass er zurück und auf den Boden geschleudert wurde. Er rappelte sich auf, gewann wieder den Überblick, sah wie der Strahl weiterwanderte und mit voller Wucht auf die Frau traf, die mit der kleinen Kamera fotografiert hatte, und ihren Körper meterweit zurückspülte. Er drehte sich um, hob die Kamera, drückte ab, bemerkte nicht, dass der andere Wasserwerfer jetzt seitlich in Stellung war, der Strahl stieß ihn mit Gewalt in den Rücken und warf ihn über die große Entfernung neben die Frau, dass sie halb unter ihn zu liegen kam, die Kamera zwischen ihnen drückte schmerzhaft.
Wie in einer tausendstel Sekunde Verschlusszeit ein Bild auf den Sensor seiner Kamera prallt und dann für lange Zeit digital fixiert ist, so ging das Bild des Gesichts in Robins Netzhaut: weiß, blutend, die Augen schwarz und blitzend, vor Entsetzen, vor Scham und Zorn. Heftig stieß sie ihn von sich. Er richtete sich auf, reichte die Hand, ihr zu helfen. Sie lehnte ab, sprang sportlich-geübt auf. Er ahnte nicht, dass die Wasserwerfer der Vorbereitung eines Angriffs gedient hatten, denn eine Reihe von Schilden und Helmen war vorgerückt. Plötzlich standen drei Polizisten vor ihm, einer griff nach der Kamera, brüllte ihn an, er solle sie herausgeben, sein Nebenmann brüllte: die Sim-Karte. Robin schob sie unter sein Hemd und verschränkte die Arme davor. Unerwartet stellte sich die Fotografin vor ihn, rief etwas auf Kantonesisch, was er nicht verstand, der Polizist schrie zurück – „alles Lüge, wir kriegen dich“ –, hob seinen Schlagstock, sie wehrte mit dem Unterarm ab, der andere Polizist stieß sie mit dem Schild, sie fiel, er schlug mit dem Schlagstock auf sie ein, traf den Kopf. Im Reflex zuckte Robins Hand zur Kamera. Dann aber, wider alle seine Berufsprinzipien, und obwohl er sich geschworen hatte, in solchen Situationen eher auf den Auslöser zu drücken als einzugreifen, das war sein Beruf und Basis seines Erfolgs schon als Kriegsberichterstatter in Syrien und Afghanistan, trotz eingefleischter Berufsroutine konnte er jetzt das, was berührungsnah neben ihm geschah, nicht ertragen. Er stellte sich dazwischen und hob die Arme gekreuzt hoch, samt Kamera, wie einer der sich ergibt, aber deutlich als Abwehr. Er brüllte „Presse“, sie brüllten etwas auf Kantonesisch, was er nicht verstand, wahrscheinlich, er solle verschwinden, er stand breitbeinig vor dem Körper der Frau, erhielt noch einen Schlag auf den Arm, dann ließen sie ab und wandten sich einem Demonstranten neben ihnen zu, der gerade auf einen anderen Polizisten mit seiner Bambusstange einschlug, der um Hilfe rief, weil er keinen Schild mehr hatte.
Er half ihr, die sichtlich Schmerzen hatte, hoch, hakte sie unter den Arm und brachte sie aus der Gefahrenzone. Wie zur Vollendung seines Rittertums traf ihn noch ein Gummigeschoß so heftig in den Rücken, dass er kurz dachte, es sei eine echte Kugel gewesen, die seinem Leben im Moment, da er einer Frau half, ein Ende setzen würde. So schnell er mit seiner neben ihm hinkenden Last konnte, ging er bis zur Queens Road. Er zog sie in den Eingang eines Geschäftshauses. Blut kam aus einer Wunde oberhalb der Schläfe. Unter dem Auge hatte sich eine Beule gebildet. Er half ihr auf die Brüstung vor einem Schaufenster und reichte ihr ein Tuch.
„Vielen Dank.“
„Nichts zu danken. Ist schon in Ordnung.“ Er hakte nach. „Kollegin?“
„Ja.“
„Für wen?“
„Hong Kong Commercial Daily.“
„Sie haben sich vor mich gestellt und den Polizisten etwas sagen wollen.“
„Ich wollte mich rausreden. Sei auf deren Seite.“
„Es hat wohl nicht geklappt.“ Nachdenkliches Schweigen. Dann, wie zur Erläuterung ihrer schützenden Geste, sagte sie: „Ich habe gesehen, was Sie fotografiert haben.“
„Ist mein Job.“
„Nicht ungefährlich in Hongkong.“
„Wie meinen sie das?“
Sie antwortete nichts, stand auf, sah ihn an, ruhig, kühl, nachdenklich. „Wie sieht mein Gesicht aus?“
„Gut, aber mit ungewöhnlichen Schminkspuren.“
Sie lächelte.
Draußen wurde es lauter, ein übersteuertes Megafon, Getrappel, Rufe waren zu hören, er wusste nicht ob von Demonstranten oder Polizei. Dann aber drängte sich die Menge in den Eingang
zum Haus, strömte an ihnen vorbei, in Richtung der Schwing-türen zum Erdgeschoss eines Warenhauses, Frauenmode. Sie hatten Schwierigkeiten sich zu halten.
„Ich muss jetzt gehen, allerdings…“ Sie zögerte.
„Können wir uns nochmal sehen?“, hakte er in einem spontanen Reflex auf ihr Zaudern ein.
Sie dachte kurz nach. „In der Tat interessieren mich ein paar Bilder, die Sie gemacht haben. Vielleicht können Sie mir die gelegentlich zeigen, eventuell überlassen?“
„Warum nicht!“
„Kann ich ein Foto von Ihnen machen?
„Ja sicher.“
Sie zog ihr Handy. „Und wo wohnen Sie?“
„Im Chungking Mansion.“
Sie lachte knapp. „Wir sehen uns,“ drehte sich um und ver-schwand im Strom der Demonstranten. Typisch Frau dachte er, wie soll sie ihn treffen, wenn sie weder Namen noch Hotel weiß. Als er ihr durch die Schwingtür zu folgen versuchte, trieb ihn die Menge in einen mehrgeschossigen Raum mit umlaufenden Galerien und fünf riesigen Kristallleuchtern unter der Decke, deren Licht in langsamem Rhythmus die Farben wechselte. Es tauchte die Köpfe der Demonstranten in rot, grün, blau, gelb oder lila und machte sie unausweichlich zur Kulisse der Inszenierung einer Konsumwelt, zu der die rundum angeordneten Stores und Reklamen der globalen Modehäuser wie Armani, Boss, Chanel oder Versace gehörten. Hinter dem Schaufenster von Victorias Secret lief rückwärtig auf einem Screen die Endlos-Schleife einer Modenschau spärlich gekleideter Models. Die chinesische Fotografin blieb ver-schwunden.